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Ansprache am 30. Januar 2024 Auricher Marktplatz Demo gegen Rechtsradikalismus – Superintendent Tido Janssen

Liebe Mitdemonstrierende!
„Ich habe Angst!“ – das sagte vor ein paar Tagen einer, der ehrenamtlich bei uns mitarbeitet. Und plötzlich wurde es in der Runde ganz still. Er erzählt von seinem Sohn. Er lebt nicht so weit von hier. Er hat eine jüdische Frau und zwei jüdische Töchter. Diese Familie lebt in Angst. Die Gespräche hinter vorgehaltener Hand. Der Schulweg. Der Besuch in der Synagoge. Alles mit Angst. Gespenstisch! –
Ich demonstriere hier mit, weil ich nicht will, dass irgend-jemand Angst haben muss. Das Angstgespenst muss weg.
Es ist vielleicht der schönste Satz in deutscher Sprache: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es ist ein Satz gegen die Angst. Von Anfang an soll klar sein: Schön, dass es dich gibt. Schön, dass wir einander haben. Wir sind bunt. Wir sind viele. Und das ist gut so. Wir tragen alle einen Kern in uns, der ist so kostbar, ja, ich finde sogar heilig: Niemand, niemand darf ihn antasten.
Diese Würde ist uns allen von Geburt an als Geschenk mit in die Wiege gelegt. Egal, wie Du aussiehst. Egal, welche Hautfarbe. Egal, wo du herkommst. Egal, welche sexuelle Orientierung du hast. Egal, welche Religion. Egal, ob mit Handicap oder ohne. Die Herabwürdigung anderer Menschen darf keine Alternative für unser Land sein.
Wo das geschieht, stehen wir auf und stehen wir zusammen.
Zusammen für etwas einstehen:
Eine der überwältigendsten Erfahrungen habe ich hierzu 1989 gemacht. Da hatte ich das Glück, auf dem Höhepunkt der Montags-Demonstrationen in Leipzig zu sein. Eine Woche vorher war die Berliner Mauer geöffnet worden. Nicht nur eine Stadt, eine ganze Region ging über den Leipziger Ring und demonstrierte für Demokratie und Freiheit. Zehntausende Menschen. Sie alle riefen lauthals: „Keine Angst!“ Alle hatten Angst. Niemand wusste, ob die Nationale Volksarmee nicht doch noch schießt. Aber die vielen Menschen und ihre Entschlossenheit: Sie waren selbst wie eine menschliche Mauer gegen die Angst.
Wir demonstrieren hier heute nicht, weil wir ein neues politisches System fordern. Wir stehen hier zusammen, weil wir unsere demokratische Freiheit lieben und behalten wollen.
Nur zu demonstrieren, genügt jetzt aber auch nicht. Unsere Demokratie braucht uns alle. Wir dürfen wählen. Wir müssen es jetzt auch tun. 1972 haben 91,1% aller Wahlberechtigten an der Bundestagswahl teilgenommen. Bei der letzten Kommunal- und Landtagswahl 2021 und 2022 lag im Landkreis Aurich die Wahlbeteiligung bei nur noch 58 %. D.h. fast jeder Zweite hat gar nicht gewählt. Das können wir uns nicht mehr erlauben. Nirgends können wir Rechtsradikalismus leichter bekämpfen als an der Wahlurne. Jetzt nicht gleichgültig bleiben, aufstehen, wählen und braunes Gedankengut in Grund und Boden wählen – das ist unsere Alternative für Deutschland. Im Juni ist Europawahl. Da können wir schon mal anfangen.
Und liebe Politiker*innen ganz besonders auf Bundesebene! Stärkt uns hier den Rücken!
Bitte macht eine Politik, die gerecht ist, die denen hilft, die wirklich Hilfe brauchen, die Frieden schafft und erhält und die auch allen kommenden Generationen ermöglicht, diese Erde schön zu finden.
Und dann, wir alle:
Wenn jemand Hassparolen im Netz postet: Sag nein! Dann, wenn jemand unsere Demokratie verächtlich macht: Sag nein!
Dann, wenn jemand den Holocaust für einen Vogelschiss hält: Sag nein!
Dann, wenn jemand von der Wegführung in Deutschland lebender Menschen spricht: Sag nein!
Sag nein am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, egal wo.
Und dann sehe ich hier in Aurich und umzu junge Menschen in Hilfsorganisationen, in Umweltbewegungen, in den Kirchen, in Parteien und anderen Vereinen.
Die sagen JA! Die sagen „Ja!“ zur Akzeptanz verschiedener Lebensweisen. Die machen sich stark für einen bunten, vielfältigen, menschenfreundlichen Umgang hier in unserer Stadt und auf dem Land.
Ja, das macht doch Mut.
Und viele andere gute Initiativen gibt es hier.
Ja, das macht doch Mut.
Und dass wir alle hier zusammenstehen für würdigen Umgang miteinander: Ja! Das tut uns doch selbst gut.
Keine Angst! Zusammen sind wir stark!

Frieden – Zukunft – Hoffnung: Predigt am Volkstrauertag 2023

19.11.2023 – Jeremia 29

Predigttext: Jeremia 29

Einleitung: Die fremde Macht Babylon hatte Israel überfallen und besiegt. Das geschah etwa 600 Jahre vor Christi Geburt. Soldaten haben Geiseln in Israel genommen und sie nach Babylon entführt und verschleppt. Die ganze politische Führungsschicht, die Geistlichkeit und die Wirtschaftsführer gehörten dazu. Schon lange dauerte dieser Zustand an. Da schreibt der Prophet Jeremia aus Jerusalem einen Brief an seine Landsleute in Babylon. Wir hören heute Worte aus Jeremias Brief, wie sie im 29. Kapitel seines Prophetenbuches stehen.

In dem Brief stand: So spricht der Herr Zebaot, der Gott Israels!Das ist meine Botschaft für alle in der Verbannung,die ich aus Jerusalem nach Babylon weggeführt habe:Baut Häuser und lasst euch darin nieder!Legt Gärten an und esst, was dort wächst!Heiratet und zeugt Söhne und Töchter!Verheiratet auch eure Söhne und Töchter,damit auch sie Kinder bekommen!Eure Zahl soll dort wachsen, nicht abnehmen.Seht zu, dass es der fremden Stadt gut geht,in die ich euch verbannt habe!Betet für sie zum Herrn!

Denn geht es ihr gut, wird es auch euch gut gehen. Und ihr werdet in Frieden leben. So spricht der Herr: Ich weiß, was ich mit euch vorhabe. Ich habe Pläne des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken. Ihr werdet zu mir rufen.

Ihr werdet kommen und zu mir beten, und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen, und ihr werdet mich finden. Ja, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, dann lasse ich mich von euch finden. Ich werde euer Schicksal wenden. Ich werde euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verbannt habe. Ich bringe euch an den Ort zurück, von dem ich euch weggeführt habe.

Liebe Radiohörerinnen und –hörer! Liebe Volkstrauertagsgemeinde!

Trauriger Tag. Volkstrauertag. Die Fahnen wehen auf Halbmast. Es ist das äußere Zeichen unserer „Volkstrauer“. Wo steckt aber die Trauer? Spüren wir sie? Berührt sie uns? Hängt unser Herz auch auf Halbmast? Es ist so lange her. 80 Jahre plus minus. Da kann die Trauer doch auch mal bewältigt sein, könnten wir meinen.

Trauriger Tag. Ja, er ist tot. Justus. Justus Janssen. Der ältere Bruder meines Vaters. Sein Name ist in Stein gemeißelt auf einem Denkmal für Kriegstote in einem Dorf nahe Bremen. Ab und zu halten wir da an. Und mein Vater: dicht an dem Stein, zeigt mit der Hand auf den Namen: Justus Janssen. Vermisst. Irgendwo in Frankreich. Nie wieder etwas von ihm gehört. Er ist einfach nicht wiedergekommen. Verschollen. Kein Grab. Nichts. Das Warten nach dem Kriegsende war Tag für Tag vergeblich. Immer mehr wurde für die Eltern und die Geschwister zur traurigen Gewissheit: Er lebt nicht mehr. Jetzt nicht mehr.

Traurig. Ein Einzelschicksal. Ein Schicksal von Millionen anderen. Aber was heißt das schon: Millionen.

Mensch für Mensch. Einer und noch einer und noch einer…

Wie war Deine Familie vom Krieg betroffen? –

Heute sterben sie wieder: Dmitri, Vladislav und Kyrylo.

David, Moshe, Ytzchak – Mohamed, Sami, Mahmud.

Einer, Tausende, Zehntausende. Mensch für Mensch.

Furchtbar. Nicht nur traurig ist das. Für viele ist es ein Trauma. Dazu heute die Angst um Geiseln: der zwölfjährige Eitan. Er wurde auf einem Motorrad nach Gaza entführt. Sein Vater auch. Die Mutter Batsheva und ihre beiden Töchter konnten sich retten. Eitan und sein Vater sind nur zwei von 240 Geiseln der Terrorgruppe Hamas. So viel Angst um sie. Nicht auszuhalten. Und wieder werden sie eines Tages neue Mahnmale für die Kriegstoten errichten und Reden halten und das „Nie wieder!“ beschwören.

Kriegsgräuel ziehen auch uns runter. Viele von uns fühlen sich deprimiert und niedergeschlagen. Man möchte es nicht sehen und kann es nicht mehr hören. Und dies sind ja nicht die einzigen Krisen.

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir! Herr, höre meine Stimme. Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.“ Es gibt heute so viele Gründe für einen Volkstrauertag. 

„Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht, sei da, sei uns nahe, Gott.“ So haben wir gemeinsam gesungen. Und Gott sagt: „Ich weiß, was ich für Gedanken über euch habe. Ich habe Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken.“

Das klang damals und klingt heute wie eine schöne Illusion. Wie es damals war, hat uns Markus Husen vorhin vorgelesen. Die gesamte politische, religiöse und wirtschaftliche Führungsschicht war in Geiselhaft, in Babylonischer Gefangenschaft. Keine Aussicht auf Rückkehr und Zukunft. Eine perfide Kriegstaktik. Jede Aussicht auf Besserung soll von vornherein ausgeschlossen sein.

Schnell wird es auch nicht gehen. Das sagt Jeremia auch nicht. Im Gegenteil. Richtet euch erst mal ein: Baut dort in Babylon Häuser! Legt Gärten an! Heiratet! Bekommt Kinder! Und betet! Das heißt: Richtet Euch in dieser ungeliebten befremdlichen Situation ein. Das wird dauern. Aber: Mut zur Zukunft ist auch angesagt. Frieden wird kommen. Und Zukunft und Hoffnung. Darauf könnt ihr euch fest verlassen. Ist das eine billige Vertröstung? Zu sehen war davon jahrelang nichts. Aber in ihnen schlummerten diese Gedanken. Und diese Gedanken setzten Kräfte frei. In schwieriger Zeit halten sie durch. Da ist ein Funke in ihnen. Ich hoffe. Ich hoffe auf Frieden. Es wird für mich eine gute Zukunft geben. Hoffnungsvolle Gedanken entfalten eine unglaubliche Kraft.

Zwei Wochen nach dem Mauerfall am 9. November 1989 war ich in Leipzig. Als junge Pastoren am Ende unserer Ausbildung haben wir Kollegen dort besucht. An einem Montagabend konnten wir in der reformierten Kirche in der Innenstadt Leipzigs an einem Friedensgebet teilnehmen. Unsere Gastgeber haben es dort gestaltet. Kerzen erleuchteten die Kirche. Selten habe ich derart Gänsehaut beim Hören eines Bibeltextes bekommen als in der durchaus noch angespannten Situation vorgelesen wurde: „Selig sind die Frieden stiften. Sie werden Gottes Kinder heißen.“ Ein Satz von Jesus. Ein Gottesgedanke. Es wurde für einen friedlichen Abend gebetet. Es wurde gemeinsam gesungen. Und dann ging es raus aus der Kirche auf den Innenstadtring zur Montagsdemonstration. Menschen – so viele, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen. Und – es blieb friedlich. Ich habe die Kraft der Gedanken gespürt: Die Menschen waren davon beseelt. Wir wollen Frieden und wir wollen Freiheit in dieser Stadt. Wir wollen das Beste für diese Stadt. Wir wollen eine gute Zukunft für uns. Diese Gedanken entwickelten revolutionäre Kraft. Ein Mitglied der Staatsführung musste später zugeben: „Wir haben mit allem gerechnet, aber nicht mit der Kraft von Kerzen und Gebeten.“

„Ich weiß, was ich für Gedanken über euch habe, sagt Gott. Es sind Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken.“

50 Jahre nach dem Tod des verschollenen Justus Janssen in Frankreich wird in Rotenburg/Wümme ein Junge geboren: Er heißt: Justus Janssen. Mittlerweile ist er 30 Jahre alt. Wir hoffen: Er wird kein Babylon erleben müssen und keinen Krieg. Sondern Frieden und eine gute Zukunft. Wie sein Bruder auch. Wie alle Kinder. Wie die Menschen in der Ukraine und in Russland. Wie die Geiseln in Gaza und ihre Angehörigen. Wie die Menschen in Israel und Palästina. Wie Deine Familie auch. Wie wir alle. Amen.

„We shall overcome“ – Wir werden überwinden: Angst, Hass, Krieg. Dieses Lied ist kein naiver frommer Wunschtraum. Es ist ein Protestlied gegen Leid und Unterdrückung. Es war ein Schlüsselsong der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 60er Jahre. Es wurde 1963 von Joan Baez vor über 200.000 Menschen beim March on Washington vor dem Lincoln Memorial gesungen. Und Martin Luther King hielt seine berühmte Rede „I have a dream“.

Das gemeinsame Singen verringert die Angst vor Gewalt. Das Singen schweißt zusammen und macht Mut.

„We shall overcome“ – darin steckt die revolutionäre Kraft der Hoffnung auf Frieden – auch heute am Volks-trauer-tag.                               

Wir singen: We shall overcome

S. Tido Janssen

Ansprache zum 9. November 2023 (Reichspogromnacht)

Liebe Teilnehmende an dieser Gedenkveranstaltung!

Gespenstische Stille. Vor ein paar Tagen war ich hier. Allein. Ganz allein. Dann herrscht hier – gespenstische Stille. Ich habe versucht, mir vorzustellen, was hier war. Ein Haus. Ein Bethaus. Eine Synagoge, d.h. ein „Haus der Zusammenkunft“. Hier kommt aber niemand mehr zusammen. Oder Hebräisch: Beth Knesset – ein Haus der Versammlung. Hier versammelt sich aber niemand mehr. Außer – Gott sei Dank – heute. Und immer wieder am 9. November.

Wir sind hier, weil nicht vergessen können und wollen. Wir versammeln uns hier, weil wir empfindsam bleiben für geschehenes Unrecht und nicht zulassen wollen, dass neues Unrecht und Hass auf Juden in Aurich oder wo auch immer sich Bahn bricht. Ich glaube wir müssen genau hinspüren, was hier war und wer hier war und wer jetzt nicht mehr hier ist. Und dann herrscht hier: Gespenstische Stille. Eine bedrückende Leere. Keine jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich hier versammeln, um die Thora zu lesen und zu hören. Keine Juden, die ihre schönen Glaubensfeste feiern:

  • Rosch Haschana – das jüdische Neujahrsfest
  • Jom Kippur – das große Versöhnungsfest zwischen Gott und Menschen.
  • Pessach – die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten
  • Niemand, der hier das Schma Jisrael betet, das grundlegende Glaubensbekenntnis des Judentums: Schema jisra’el adonai elohenu adonai ächad: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein!“
  • Auch keine Gesänge klingen: Hewenu Shalom alächem. „Wir bringen Frieden euch allen.“

Das Gotteshaus, das hier bis zum 9. November 1938 stand, wurde mutwillig von einem fanatischen SA-Trupp angezündet, abgebrannt, lichterloh. Und kein lauter Auricher Aufschrei. Stille. Gespenstisch.

An der brennenden Synagoge vorbei wurden die Auricher jüdischen Männer, Frauen und Kinder unter wüsten Beleidigungen und Misshandlungen zur sog. „Bullenhalle“ an der Emder Straße abgeführt. Die meisten Männer unter 60 Jahren wurden in das Konzentrationslager Sachsenhausen überführt. Nur noch Stolpersteine erinnern an sie. Und hier die Gedenkstelen. Ein Straßenname, ein Buch von Hannelore Wolff. Und wir hier heute. Wir stemmen uns gegen das Verstummen.

Wir sind heute viele. Gott sei Dank! Aber in Wirklichkeit sind wir immer noch viel zu wenige. Heute an diesem 9. November, vier Wochen nach dem 7. Oktober. Wir alle brauchen ein Mahnmal des Fühlens in unserem eigenen Innern. Wir müssen das Ungeheuerliche in uns fühlen, das hier geschehen ist und das geschieht.

Die terroristischen Taten der Hamas sind barbarisch. Nichts, aber auch gar nichts bietet eine Rechtfertigung für die grausamen Attacken auf Menschen in Israel. Die Geiseln der Hamas und ihre Angehörigen – in Todesängsten Tag für Tag. Fürchterlich. Nichts, aber auch gar nichts kann eine Ausrede dafür sein, dass jüdische Schulkinder in Deutschland Angst auf ihrem Schulweg haben müssen, weil Steine fliegen. Antisemitismus verdient nicht das leiseste Verständnis. Er führt nur wieder zu – gespenstischer Stille. Angst schleicht sich in unsere Herzen, so fürchterlich aktuell ist heute dieser 9. November 2023.

Etwa 30 % der deutschen Bevölkerung meinen, dass endlich ein Schlussstrich unter die Diskussion um Juden und die Verbrechen der NS-Zeit gezogen werden sollte. Ich halte das für sehr gefährlich, weil es Antisemitismus und judenfeindlicher Rede Tür und Tor öffnen könnte. Innerhalb von 14 Tagen im Oktober gab es nur in Niedersachsen 34 antisemitische Gewalttaten.

Was aber dann?

„Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein je.“

Das sagte kurz nach dem 7. Oktober Daniel Barenboim, der große Dirigent. Er leitet das West-Eastern Divan Orchestra. Ein Großteil der Mitglieder stammt aus Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten, aber auch aus anderen arabischen Ländern wie Jordanien und Libanon. Hinter dem Projekt steht die politische Überzeugung, dass es keine militärische Lösung des Nahostkonfliktes geben kann und dass die Schicksale von Israelis und Palästinensern untrennbar miteinander verbunden sind. Barenboim sagt: „Die größte Gefahr ist doch, dass alle die Menschen, die sich so sehnlichst Frieden wünschen, von Extremisten und Gewalt übertönt werden. Die Basis muss sein:

Es gibt Menschen auf beiden Seiten. Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg. Das Leiden unschuldiger Menschen auf egal welcher Seite ist absolut unerträglich.“

In diesem Geist musizieren sie zusammen, fühlen gebrochene Herzen über die terroristischen Angriffe der Hamas. Entscheidend ist doch die Bereitschaft zur Empathie, die Bereitschaft, die Situation der Anderen nachzufühlen. Verloren sind wir in dem Moment, wo wir einander die Menschlichkeit absprechen. Beide Seiten müssen ihre Feinde als Menschen erkennen und versuchen, ihren Schmerz und ihre Not nachzuempfinden. 

Und da sind wir bei uns selbst. Wir alle können durch Empathie mehr bewirken und weitergeben als wir glauben. So verändern wir etwas im Kleinen. Im Großen ist die Politik gefragt. Wir müssen uns heute auch eingestehen, dass es nicht reicht, Empathie zu empfinden und zu Gedenktagen zusammenzukommen. Viele Menschen erreichen wir so nicht mehr. Nichtwissen und Falschinformationen über den Holocaust, den Nahostkonflikt und den Antisemitismus sind vor allem in digitalen Medien viel zu weit verbreitet. Ich glaube: Wir brauchen eine neue Bildungsoffensive auf Kanälen, die die Menschen tatsächlich heute auch erreichen. Wir brauchen ein Zusammenwirken mit Influenzern mit großer Reichweite, wir brauchen ausgebildete „Digital Streetworker“, aber auch Arbeiten wie die der Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedens-dienste, Fahrten zu Gedenkstätten und nach Israel. Wir brauchen Mut, Zivilcourage, Herzensbildung und politische Bildung. Antisemitismus ist wie eine ewig schlummernde Pestbeule. Sie wartet nur auf den kleinsten Anlass, um wieder auszubrechen. Unsere Gesellschaft ist nicht immun gegen Hass und Hetze. Von Links und Rechts, aus islamistischen und leider manchmal auch aus bürgerlichen Milieus quillt Antisemitismus. Wir wissen wohin es führt. Man kann mit dem Bösen nicht ein bisschen flirten. Man wird von ihm völlig aufgesogen. Das sage ich auch allen, die meinen, wenn sie die AfD wählen, nur eine Protestpartei zu wählen. Wer der Barbarei nur einen Schritt entgegentritt, läuft ins Verderben. Wer nur einen Bissen von der Frucht des Bösen probiert, ist vergiftet.

Wir wollen keine neue gespenstische Stille. Deshalb müssen wir uns lautstark an Tage wie den 7. Oktober und den 9. November erinnern. „Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein je.“

S. Tido Janssen

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis

Wie geht Frieden? – 1. Mose 13,1-13

Liebe Radiohörerinnen und –hörer!


Liebe Gemeinde!


Yocheved Lifschitz wurde vergangenen Montag nach aus furchtbarer zweiwöchiger Geiselhaft der Hamas freigelassen. „Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagte die 85-jährige am Tag danach in Tel Aviv. Ein Video der Freilassung zeigt, wie Yocheved Lifschitz im letzten Moment noch einmal umkehrt. Sie drückt einem vermummten Hamas-Terroristen zum Abschied die Hand und sagt „Shalom“. Das ist das hebräische „Moin!“. So grüßt man sich in Israel, wünscht sich dabei aber mehr als einen schönen Tag, nämlich Frieden. Dies ist ein seltener wohltuender Moment der Menschenfreundlichkeit in diesem aktuellen Konflikt. So grausam wurde er von Hamas-Terroristen angezettelt. Aber wie weit heruntergekommen ist der unzivilisierte Umgang, wenn ein einfacher Handschlag und ein „Shalom“ solch große internationale Aufmerksamkeit erregt. Yocheved Lifschitz‘ Mann ist immer noch in Geiselhaft. Was mit ihm ist, weiß die Familie nicht. Furchtvolle Ungewissheit. 

Wie geht Frieden?


So. Auf den anderen zugehen. Die Hand ausstrecken. Miteinander reden. Ihm Frieden wünschen. Sogar dem Gegenüber. Dem Gegenspieler. Dem Widersacher. Dem Konkurrenten. Dem Kontrahenten. Dem Gegner. Der Gegnerin. Dem Feind. Es braucht viele solcher Hände, die sich dem anderen entgegenstrecken, es braucht viele solcher Gesten. Und es sieht ganz anders aus in unserer Welt.

Ich erzähle uns eine andere Konfliktgeschichte aus dem Reichtum unserer jüdisch-christlichen Tradition. Es lohnt sich, ihr nach-zudenken. Sie steht im Ersten Testament, im 1. Buch Mose.

Um es vorwegzunehmen: Ich habe heute kein Patentrezept, wie Frieden auf der großen Bühne klappen wird. Das braucht viel guten Willen, viel Arbeit und Gespräch, viele kleine Schritte. Ich bin überzeugt, dass wir aus der Bibel viel lernen können, wie es gelingen kann, Konflikte anders zu lösen als nur mit der großen Kanone. Das ist in Wirklichkeit sehr gedankenarm und primitiv. Krieg ist eine Krankheit, keine Lösung. Dazu ist er menschenverachtend und todsicher tödlich. Und dann gibt es ja auch nicht nur die großen Konflikte. Nahe sind uns auch die kleinen, der Streit unter Geschwistern, unter Partnerinnen und Partnern, unter Kolleginnen und Kollegen, unter Nachbarn usw.

Ich erzähle von Abraham und Lot. Die beiden stehen auf der Hochebene zwischen Mittelmeer und dem Jordantal, etwa 20 km nördlich des heutigen Jerusalems. Ein Gipfeltreffen der frühen Zeit. Sie sind losgezogen. Gott hatte Abraham und seiner Sippe gesagt: „Geht in das Land, das ich euch zeigen werde. Mein Segen geht mit euch.“ Mit großen Hoffnungen waren sie losgezogen. Abraham, der Onkel, schon alt – Lot ist sein junger Neffe. Ihr Blick schweift über die Weite des Landes. Abraham spürt: Hier entsteht schlimmer Zank und Streit. Der karge Boden gibt nicht so viel her, wie sie sich erhofft hatten. Sie haben beide große Herden, großen Besitz. Zwischen den Hirten von Abraham und Lot hat es schon wilde Schlägereien gegeben. Und auch zwischen den beiden Clanchefs Abraham und Lot war das Klima eisig geworden. Sie sprachen viel weniger miteinander als sonst. Das große Problem: Wer hat das Recht, seine Tiere auf eine frische Weide zu schicken? Wer darf seine Tiere an den Wasserlöchern tränken? Es reicht einfach nicht für beide. 

So entstehen Konflikte bis heute: um Macht, um Land, um Lebensraum, um Lebensgrundlagen wie Wasser und Boden, um Rohstoffe, um wirtschaftliche Vorteile. Ganz leicht kann dieser Konflikt eskalieren. Abraham und Lot können ihre Hirten aufeinander losgehen lassen. Vielleicht gewinnt der Stärkere. Vielleicht verlieren aber auch alle. Gewaltvolle Möglichkeiten sind immer schnell zur Hand. Abraham überlegt lange, wie es weitergehen kann. Er sieht nur einen Ausweg: Wir müssen uns trennen. Wir müssen das Weidegebiet untereinander aufteilen. Jeder wird dann sehen müssen, wie er damit zurechtkommt. Das ist die biblische Idee einer Zwei-Staaten-Lösung im Heiligen Land. Jahrtausendealt. Aktueller denn je. So geht Frieden.

Das klingt so einfach. Ist es aber nicht. Sofort stellt sich die nächste Frage: Wer bekommt welche Hälfte des Landes? Da gibt es auf der einen Seite den steinigen trockenen Westen. Der Wind pfeift heiß darüber hinweg. Mehr Wüste als Land. Und da ist der Hang zum Jordantal hinab. Da ist Wasser, da ist saftiges Grün, da wächst und blüht es. Wie ein Garten Eden.

Also:   Wir müssen uns trennen – aber wie? Abraham trifft eine weitreichende Entscheidung: Ich biete Lot an, auszuwählen, welches Stück Land er möchte. Ich bin bereit, um des Friedens willen nachzugeben, ja, auch Nachteile für mich in Kauf zu nehmen, ja, auch Verlierer zu sein. Ein einfacher Satz bremst die Dynamik des Konfliktes: „Wir sind doch Brüder! Es soll kein Zank sein zwischen dir und mir und zwischen meinen und deinen Hirten.“ Krieg ist das Allerschlimmste, was passieren kann. Krieg ist das Ende aller Menschlichkeit.Es ist eine simple Einsicht: Wir sind doch Brüder und Schwestern. Yocheved Lifschitz‘ Handschlag mit ihrem Entführer: Lass uns doch wie Geschwister in aller Verschiedenheit vernünftig und friedlich miteinander umgehen.Auch Ukrainer und Russen waren einmal Brüder. Brudervölker nannten sie sich. Und jetzt führen sie einen Bruderkrieg. „Bruderkrieg“ ist eigentlich ein vollkommen unmöglicher Begriff. Krieg geht so, dass die Russen sagen: „Die Ukrainer sind Nazis und Feinde Russlands.“ Frieden geht so, dass einer dem anderen in Erinnerung ruft: „Wir sind doch Brüder! Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir.“

Abraham geht noch einen Schritt weiter. Er pocht nicht auf sein Alter, nicht auf irgendwelche Vorrechte. Im Gegenteil: Abraham lässt dem Jüngeren die Wahl. Um des Friedens willen ist er bereit, nachzugeben. Und Lot sucht sich das Filetstückchen aus. Der Klügere gibt nach. Der Klügere macht Platz. Abraham hat erkannt, dass es Wichtigeres und Wertvolleres gibt als zu gewinnen. Er sieht: Der Frieden ist ein unschätzbares Gut und Geschenk. Dafür nimmt er auch das trockene Land im Westen. Das ist der Preis für den Frieden.

Ich frage mich, warum Abraham das so konnte: Verzichten, Zurückstehen, Nachgeben, Nachteile in Kauf nehmen. Zwei Gründe sehe ich: Ich glaube, dass Abraham auf diesen Segen vertraute, den Gott ihm zu Beginn mit auf seinen Weg gab: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ Er geht felsenfest davon aus, dass Gott selbst seine Verheißung wahrmachen wird und dass er Gutes für ihn will. Und Reichtum ist nicht alles. Wer sich Gottes Führung anvertraut, für den wird immer genug da sein, und zwar nicht auf Kosten anderer.

Und der zweite Grund: Abraham hatte das Gebiet, das er bekommt, schon einmal durchwandert. An zwei Orten hatte er schon Altäre errichtet. Er weiß: „Da, wo ich nun hinziehe, kann ich Gott anrufen und verehren.“ Das ist ihm vorrangiger als eine große Herde, viel Geld und Gut.

Und von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Jesus.

Das Gipfeltreffen mit seinen Jüngern auf dem Berg nutzt Jesus für Spitzenworte.Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen – das sagt er in einer Welt, in der man schon damals den Eindruck hatte, dass es die Skrupellosen sind, die sich die Welt unter den Nagel reißen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen – spricht er, obwohl sich ein kriegführender Kaiser wie ein Gott verehren lässt. Und wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Das sagt er zu Menschen, die in dieser Situation normalerweise schon auf dem Weg zum Rechtsanwalt wären. Sogar Feindesliebe empfiehlt Jesus. Ist das naiv? War Jesus ein Spinner? Auf jeden Fall war seine Empfehlung erstmalig, einmalig, einzigartig und außergewöhnlich. Feindesliebe heißt ja nicht: Lass dir alles bieten! Das ist kein Kapitulationsfrieden. Sondern: Sei klüger als dein Feind. Hab den Mut zum ersten Schritt. Frieden ist kein Ziel, er ist ein Weg. Und dieser Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Michael Gorbatschow hat einmal gesagt: „Die Bergpredigt Jesu ist im Atomzeitalter das Überlebensprogramm der Menschheit.“ Unsere deutsche Einheit ist auch deshalb friedlich erfolgt, weil auf die Anwendung von Gewalt verzichtet wurde. Gorbatschow verweigerte den Schießbefehl auf junge Menschen. So geht Frieden.

Und was hat dies alles mit den gegenwärtigen Krisen im Nahen Osten, in der Ukraine, im Sudan zu tun? Was, wenn es nicht um eine gute gemeinsame Zukunft geht, sondern um Unterwerfung und Demütigung Kriegsziele sind? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, liebe Gemeinde. Der Predigttext heute bietet keine Rezepte dafür, wie der Friede in Israel und in der Ukraine möglich ist. Einem aggressiven Kriegstreiber muss man entschlossen entgegentreten. Aber die Geschichte der Trennung von Abraham und Lot zeigt, wie eine jüdisch-christliche Friedenshaltung aussehen kann und aussehen muss. Wir dürfen uns nicht beteiligen an der Zerstörung des Gedankens der Brüderlichkeit, der Geschwisterlichkeit. Wir dürfen nicht den anderen dämonisieren, sie zu Tieren herabwürdigen, auch wenn das angesichts grausamster Untaten schwer fällt. Abraham und Lot – ihre Geschichte zeigt uns, dass die Dynamik der Gewalt nur unterbrochen wird, weil einer sich selbst zurücknimmt. Das ist keine Empfehlung an Ukrainer*innen und Israelis. Das steht mir nicht zu. Aber es ist eine Empfehlung an uns. Wir können uns zurücknehmen und auch eine zeitlang verzichten, Sieger sein zu wollen. Abraham konnte das, weil er Gott auf seiner Seite wusste. Ich bin mir sicher, dass es bei uns genauso sein wird. Frieden ist möglich.

Amen.

Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen, gib mir den Mut zum ersten Schritt

S. Tido Janssen

Predigt zur Sommerkirche 2021

24 »Wer diese Worte von mir hört und sie befolgt,
ist wie ein kluger Mann:
Er baute sein Haus auf felsigem Boden.
25 Dann kam ein Wolkenbruch.
Die Flüsse traten über die Ufer,
die Stürme tobten und rüttelten an dem Haus.
Doch es stürzte nicht ein,
denn es war auf felsigem Untergrund gebaut.
26 Wer diese Worte von mir hört und sie nicht befolgt,
ist wie ein dummer Mann:
Er baute sein Haus auf sandigem Boden.
27 Dann kam ein Wolkenbruch.
Die Flüsse traten über die Ufer,
die Stürme tobten und prallten gegen das Haus.
Da stürzte es ein und fiel völlig in sich zusammen.«

Liebe Radiohörerinnen und –hörer! Liebe Sommerkirchengemeinde!

Ich bekomme ein Foto auf mein Handy. Ein Mann mit schlammverschmiertem T-Shirt. Es ist mein Schwager Jörg, der seiner Mutter in Bad Neuenahr-Ahrweiler hilft aufzuräumen. Die Flut hat nicht alles, aber vieles weggespült. Ein trauriger Anblick. Und doch ist da Hilfe.
Ein Lichtblick in Trümmern. Man kann den Menschen dort nicht vorwerfen, dumm zu sein, auf Sand gebaut zu haben. Sie wohnen dort seit Jahrzehnten. All die Jahre schien es, sie hätten auf festen Fundamenten gebaut. Bis zu diesem einen Tag.

Die Tatsachen unserer Tage scheinen schlimmer zu sein als das Gleichnis vom Hausbau, das Jesus am Ende der Bergpredigt erzählt. Selbst das auf festes Fundament gebaute Haus stürzt ein. Die materiellen Schäden sind so riesig, dass Versicherungen und selbst der Staat an Grenzen kommen. Und die seelischen Belastungen?

Sie sind auch enorm. Es ist verstörend. Wie zerbrechlich unsere menschlichen Fundamente sind, erleben wir gerade in diesen Tagen. Was sicher schien, ist plötzlich nicht mehr sicher.
Es ist so traurig. Es rührt auch viele Menschen an. Vielleicht schwingt auch die Angst mit:
Es kann jeden von uns treffen. Überall. Auch hier. Die Hilfsbereitschaft ist auch riesig. Gott sei Dank! Auf was kann ich noch fest bauen?

Ich brauche doch so eine Art Grundvertrauen für mein Leben:
Dass das Haus hält, in dem mein Bett steht.
Dass die Menschen, die ich lieb habe, auch morgen noch da sind.
Dass die politischen Rahmenbedingungen, in denen ich lebe, dass die demokratische Grundordnung stabil ist.
Dass das tägliche Brot mir heute gegeben wird.
Dass sind doch fundamentale Grundlagen, auf denen unser Lebenshaus gebaut ist.
Und ich merke: So sicher ist das alles doch nicht.

Die Bilder der Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz und die Folgen für die Menschen in der Region erzählen zugleich noch eine ganz andere Geschichte. Sie erzählen vom Ende einer Lebensweise. Es ist nicht klug, so weiter zu leben wie bisher. Es ist nicht klug, sich damit beruhigen, dass das Unglück ein paar hundert Kilometer entfernt ist. Es reicht nicht, sich damit zu beruhigen, dass Aurich auf einem Geestrücken liegt und bei starken Überflutungen mit Wiesmoor als einziges Gebiet in Ostfriesland trockene Füße behält. Wir können nicht vergessen, dass in immer kürzeren Abständen Wälder brennen, extreme Hitze und Dürre herrschen, Hunger, Not und Verzweiflung an immer anderen Orten und längst überall Leben gefährden und töten.

Vor drei Tagen, am vergangenen Donnerstag, dem 29. Juli, also 5 Monate vor Jahresende, war der Weltüberlastungstag. Die Menschen haben sämtliche biologische Ressourcen aufgebraucht, die uns die Erde dieses Jahr zur Verfügung stellt. Jetzt geht es an die Substanz. Alle Fische, die gefangen werden, wachsen nicht mehr nach. Alles Kohlendioxid, was ausgestoßen wird, kann nicht mehr von Wäldern und Ozeanen gebunden werden. Es ist nicht klug, weiter zu machen wie bisher. So zerstören wir unsere eigenen Lebensgrundlagen.

Fragen wir uns:
Auf was kann ich denn noch fest bauen?
Auf welchem festen Fundament können wir leben und überleben?
Die Bildergeschichte am Ende der Bergpredigt vom Hausbau auf Sand oder auf Felsen beinhaltet ja eine Gegenüberstellung dummen und klugen Handelns.
Gucken wir auf die kluge und Mut machende Seite.

Jesus sagt:
»Wer diese Worte von mir hört und sie befolgt,
ist wie ein kluger Mann:
Er baute sein Haus auf felsigem Boden.
25 Dann kam ein Wolkenbruch.
Die Flüsse traten über die Ufer,
die Stürme tobten und rüttelten an dem Haus.
Doch es stürzte nicht ein,
denn es war auf felsigem Untergrund gebaut.

Die Bergpredigt ist eine kluge, mitreißende Rede. »Wer diese Worte von mir hört …“ Das Hören steht an erster Stelle. Wo geschieht das heute überhaupt noch? Hier im Gottesdienst. Sonst fast nirgends. Religiöse Neugier gehört dazu. Man kann nicht sagen, dass dies eine ausgeprägte Charaktereigenschaft unserer Zeit ist. Ich glaube fest, dass diese „religiöse Demenz“ unserer Gegenwart nicht gut tut. Umso besser, dass wir heute hier darüber nachdenken.

Im Blick auf die Bergpredigt will ich vier Hauptaussagen nennen, mit denen wir ein festes Fundament haben:

Felsenfest gilt und darauf kann ich mich verlassen: Wir alle sind bei Gott persönlich anerkannt. Am Anfang der Bergpredigt stehen die Seligpreisungen. Gottes besondere Nähe gilt denen, die traurig sind. Sie sollen getröstet werden. Trost können wir manchmal nicht in uns selbst finden. Das Leben kann uns so viel zumuten, so viel Schweres, persönliche Schicksalsschläge, dass das Leben schier unerträglich scheint. Dann braucht es andere Menschen, die uns halten und Worte, an die wir uns halten können, Worte, die wir uns selbst nicht sagen können, Worte, die manchmal weiter greifen als wir im Moment verstehen können. Dass da Hoffnungen und Kräfte kommen können, die uns und unserem Empfinden noch weit voraus liegen, die wir jetzt noch gar nicht ahnen. Dass Hoffnung und Leben am Ende stärker sind als die Erfahrung des Leidens und des Todes.

Das Himmelreich gehört denen, die wissen, dass sie vor Gott nicht mit ihren Leistungen punkten brauchen, sondern einfach so angenommen sind: Einfach weil du es bist. Das Himmelreich gehört denen, die andere Menschen im Blick haben, die im Schlamm mit aufräumen, die sich stark machen für die jetzt gerade Hilfe brauchen, für die Vergessenen, für die, man so leicht übersieht. Gott ist denen nahe, die barmherzig sind und denen, die Frieden stiften, denen, die sich auch beschimpfen lassen, weil sie für eine gerechte Sache sich einsetzen. Gott ist all denen nahe, die nichts zu bieten haben außer der Sehnsucht danach, dass es auf dieser Erde anders zugeht als bisher: dass alle Menschen zu ihrem Recht und zur Lebensfreude kommen. Darauf können wir uns jederzeit fest verlassen.

Eine felsenfeste Grundlage ist auch, Gottes Willen ernst zu nehmen. Dazu gehört, das Leben aller anderen zu schätzen, ihre Würde für unantastbar zu achten, nicht nur derer, die uns ohnehin nahe sind, nein, sogar derer, die uns völlig fremd sind. Das ist neu. Liebt eure Nächsten! Liebet euch selbst! Ja, aber auch dies: Liebt auch eure Feinde! Wenn er dich schlägt, halte auch die andere Backe hin. Mach nicht mit im Kreislauf ständiger Steigerung der Konflikte! Durchbrich alte Muster! Solch ein verblüffendes Handeln kann Leben völlig verändern, öffnet Türen, kann eine neue Vertrauensbasis schaffen. Gottes Willen ernst nehmen.

Beten
Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt:
Eine Standleitung zu Gott ist immer für mich offen. Ich brauche nicht viele, noch nicht mal eigene Worte: So sollt ihr beten, sagt Jesus: „Vater unser im Himmel.“
Damit ist schon alles gesagt. Klagen, danken, loben, bitten –
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen“;
„Dein Wille geschehe.“;
„Vergib uns unsere Schuld.“;
„Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen…“;
Alle Facetten des Lebens haben Platz im Gebet. Oder einfach in der Stille Gott das Leben hinhalten – niemand kann uns das in unserem Leben nehmen. Es kann Zeiten geben, da ist genau dies, beten zu können, Menschen der einzige Trost.

Felsenfest gilt auch: Es ist genug für alle da! Seht euch die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte in Scheunen. Trotzdem ernährt sie euer Vater im Himmel. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Nachhaltig leben, die Güter gerecht verteilen – die Erde gibt genug für alle her. Der Schöpfer hat das wunderbar eingerichtet. Nur wir selbst können das Gleichgewicht stören, wenn wir mehr wollen als das tägliche Brot. Das alles kann durch ein ganzes Leben tragen, durch Stürme, Wolkenbrüche und Fluten. Ein festes Fundament.

Manchmal wird dieser Grund trotzdem wanken. Glaube an Gott heißt nicht, dass man nie an Grenzen kommt oder dass man alles mit Leichtigkeit schafft. Das ist bei mir nicht so und bei Euch sicher auch nicht. Aber der Glaube an Gott ist wie ein Zuhause, ein festes Haus mit starkem Fundament, wo ich an glücklichen Tagen meinen Dank ausspreche und singe, wo ich in stürmischen Zeiten einkehre und klage und flehe und Kraft suche für meine Seele. Da ist er für uns da. Darauf können wir bauen. Felsenfest.

Amen.

Predigt zu Neujahr 2021

Zu Beginn seiner Wirksamkeit kommt Jesus auch in seinen Heimatort Nazareth. Heute am Neujahrstag hören wir aus dem Kapitel des Lukasevangeliums, was dort geschah.

Jesus kam auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war. Am Sabbat ging er wie gewohnt in die Synagoge. Er stand auf, um aus den Heiligen Schriften vorzulesen. Man reichte ihm die Schriftrolle mit dem Propheten Jesaja. Jesus rollte sie auf und fand die Stelle, wo geschrieben steht:

»Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Das ist mein Auftrag: Den Armen soll ich die Gute Nachricht bringen. Den Gefangenen soll ich ankündigen, dass sie frei werden, und den Blinden, dass sie sehen werden. Den Unterdrückten soll ich die Freiheit bringen. Ich soll verkünden: Jetzt beginnt das Jahr, in dem der Herr Gnade schenkt.«

Jesus schloss die Schriftrolle wieder, gab sie dem Synagogendiener zurück und setzte sich.
Alle Augen in der Synagoge waren gespannt auf ihn gerichtet. Da sagte er zu den Anwesenden: »Heute – in eurer Gegenwart – ist dieses Schriftwort in Erfüllung gegangen.«
Alle spendeten ihm Beifall. Sie staunten über die Botschaft von der Gnade, die er verkündete.

Liebe Gemeinde hier in der Lamberti-Kirche! Liebe Radiohörerinnen und –hörer!

2021 – offen und unbeschrieben liegt dieses Jahr heute vor uns. Ich möchte gerne neugierig hineinhorchen: Was mag es uns bringen?

Im Persönlichen: Bleiben wir gesund? Werden wir einander am Jahresende noch haben dürfen? Wie geht es mit meiner Arbeit? Wie wird es den Kindern ergehen? Kann ich alleine in meiner Wohnung bleiben? Oder muss ich in ein Heim? Meine Pläne – werde ich sie in die Tat umsetzen können? Und im Großen: Wie geht in unserem Land weiter? Und mit den Konflikten in der Welt? Mit Not und Armut?

„Jetzt beginnt das Jahr, in dem der Herr Gnade schenkt.“, sagt Jesus bei Lukas.

2021 – ein Gnadenjahr. Für uns. Was für eine Vision. Kein Seuchenjahr. Ein Gnadenjahr. Heute – am 1. Januar – dieses Wort von Jesus. Es ist seine Antrittspredigt in seiner Heimatsynagoge in Nazareth. In diesen Worten verdichtet sich sein Weg: Wofür er steht – wozu er kommt. Sein Programm. Mit ihm beginnt eine neue Zeit. „Heute“ sagt Jesus bei Lukas. Heute – das kommt bei ihm immer wieder vor.

„Euch ist heute der Heiland geboren. Heute ist deinem Haus Heil widerfahren“, sagt er zum Zöllner Zachäus. Und noch im Sterben sagt Jesus am Kreuz zu einem Verbrecher: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“

Heute erfüllt sich hier Gottes Verheißung. Das klingt verrückt. Kompromisslos. Atemberaubend modern. Gnade ist das Wort dieses Jahres. Aber wo erfüllt sich was? So viel ist doch aus dem Lot. Bei vielen. Das innere Gleichgewicht. Die Haut ist dünn. Angst greift seuchenhaft um sich. Warten wir nicht heute immer noch genauso auf bessere Zeiten wie zu Jesajas Zeiten, wie zu Jesu Zeit, wie zu allen Zeiten? Wo ist das Gnadenjahr?

Jesus sagt es unbeirrt. Heute erfüllt sich das. In mir. Mit mir ist es da. Die Armen, die, die Trost suchen, die Mut brauchen, die eine Perspektive für sich suchen, die ängstlich sind:
ihr sollt hören, ihr sollt sehen:
Heute ist hier der Anfang von etwas ganz Großem, etwas ganz Neuem. Nein, mit Jesus hat sich die Welt nicht von einer Stunde auf die andere schlagartig verändert. Aber eine andere Sicht wird möglich. Seine Worte verändern Menschen. Sie beflügeln den Glauben: es kann wirklich gut werden. Und in der Tat: Wir erleben es doch gerade:

Wir nehmen Rücksicht. Wir schützen uns und andere. Wir schulen unser Einfühlungsvermögen. Gemeinsam können wir eine Riesenaufgabe bewältigen. Diese Herausforderung betrifft uns alle. Alle Welt sogar. Nur miteinander können Heil und Frieden und Gerechtigkeit und Gesundheit sich durchsetzen. So viele engagieren sich heute für Kranke, für Alte, bleiben bei Sterbenden. Teilen Zeit. Teilen Geld. So viele helfen bescheiden und unspektakulär, für die Jesu Worte Programm sind. Viele Menschen lassen sich auch heute von Jesu Worten verändern. Sie hören nicht auf daran zu glauben, dass es eine andere Sprache gibt als Gewalt und Egoismus und das Recht des Stärkeren.

Ich habe in den Tagen vor Weihnachten mit den Ehrenamtlichen der Auricher Tafel Gottesdienste in vier Kirchen, in Victorbur, in Mittegroßefehn, in Marx und hier in
der Lamberti-Kirche gefeiert. Es sind fast 200 Mitarbeitende, die Woche für Woche
für über 1000 Tafelkunden in vier Regionen Lebensmittel bereitstellen. Da erfüllt sich heute das Programm Jesu.

Die, die es jetzt gerade brauchen, werden gesehen und bekommen, was sie gerade jetzt
brauchen. Da, wo Menschen einander sehen und sich einander annehmen, wo Kranken geholfen wird, Menschen in Not wahrgenommen werden, wir für sie beten und sie mit unserer Zeit und unserem Geld öffentlich unterstützen, da erfüllt sich heute Jesu Geist und Programm. Wir sind diejenigen, die es heute hier hören. Wir wollen dafür sorgen, dass dieses Wort 2021 nicht in Vergessenheit gerät.

Ich bin überzeugt:
Hier in Aurich und überall gibt es Menschen, die fest glauben, dass unser Alltag durch Gottes Geist verändert werden wird. Es braucht hier Menschen, die davon ein klares Bild vor Augen haben, wie Gottes Welt hier aussehen soll. Es braucht uns! Es braucht Menschen, die laut von ihrem Glauben erzählen, damit Gott nicht in Vergessenheit gerät.
Es braucht Menschen, die vom tragenden Grund in ihrem Leben erzählen, der auch Zweifel erträgt. Die die Lust verspüren, für etwas Gutes zu kämpfen. Es braucht uns!

2021 – „Jetzt beginnt das Jahr, in dem der Herr Gnade schenkt.“
Es ist das Erste, was wir hier in Lamberti hören. Es ist das Beste, was wir hören können. Gottes Gnade geht mit uns. Das wollen wir im Herzen bei uns tragen. Das wollen wir weitersagen an unsere Lieben, an unsere Nächsten, an die, die es so brauchen, an die, die es gar nicht glauben können. An die, die einsam sind, an die, die arm dran sind. An die, die verblendet sind in Verschwörungstheorien. An die, die alle Freude verloren haben. Mag sein, wir sind verrückt, das zu glauben. Ich staune wie die Menschen am Ende in Nazareth, die Jesus hören. Für mich haben diese Worte Jesu heute eine enorme Kraft. Jetzt beginnt für Dich das Jahr, in dem der Herr Dir Gnade schenkt.

Dieses Jahr wird uns alle wieder vor große Herausforderungen stellen. Wir gehen von guten Mächten wunderbar behütet und getröstet in dieses neue Jahr. Das macht uns stark.

Amen.

Predigt an Heiligabend

Liebe Radiohörerinnen und –hörer! Liebe Hausgemeinden! Liebe Gemeinde am Heiligen Abend!

Weihnachten dieses Jahr, das ist eine schwere Geburt. Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von der Regierung ausging, dass alle Menschen daheim bleiben sollten. Und jedermann blieb daheim, ein jeder in seiner Stadt. So machte es auch Josef in Stadt A., und er blieb daheim mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. Und als sie daheim waren kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und die beiden hatten sich zu einer Hausgeburt entschlossen. Die Krankenhäuser waren ohnehin überfüllt. Und Maria gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln, von denen sie zur richtigen Zeit einen gehörigen Vorrat gekauft hatte…

So fängt Axel Hacke an, dieses Jahr die Weihnachtsgeschichte zu erzählen. In diesem merkwürdigen Jahr ist so vieles anders. Wie gefährlich kann uns dieses Weihnachten werden? Vor einem Jahr hätten wir diese Frage für verrückt gehalten. Wer darf kommen? „Ihr Kinderlein, kommet“ – Eltern großer Kinder können selbst das nicht unbeschwert sagen. Und wie viele dürfen kommen? Wer bleibt besser gleich daheim? Am Telefon sagt die Tochter: „Wir kommen nicht. Schweren Herzens sagen wir ab.“ Das schmerzt die Seele.
Weihnachtsstuben sind längst nicht so voll wie sonst. Wir halten liebevoll Abstand: Aber Herzen bleiben ungedrückt. Sehnsucht nach Nähe bleibt unerfüllt. Die Haut ist dünner und die Seele empfindlicher als in anderen Jahren. Dieses Weihnachten ist auch viel leiser als sonst. Keine Trompeten & Posaunen. Kein gemeinsames Singen.

Heilige Nacht, stille Nacht. So still haben wir uns das nicht gedacht. Als die drei Weisen mit ihren kostbaren Geschenken Gold, Weihrauch und Myrrhe von ihrer weiten Reise aus dem Morgenland endlich zum Stall kommen, schaut der Esel raus und sagt: „Tut uns leid, ihr könnt nicht reinkommen. Wir sind schon fünf: Ochse, Esel, Maria, Josef und das Kind. Mehr geht nicht.“ – Weihnachten dieses Jahr, das ist eine schwere Geburt.

Allerdings: In Bethlehem vor 2000 Jahren ist es auch nicht kuschelig. Maria und Josef – müssen gucken, was geht. Sie haben noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Beherbergungsverbot. Sie müssen improvisieren. Das tun sie beherzt. Ein Stall ist keine ideale Entbindungsstation. Hier stinkt’s. Wind pfeift durch die Ritzen. Kein Bett. Kein Licht. Keine Heizung. Kein heimeliger Ort. Da wird in dunkler Zeit ein Kind geboren. Aber: Wir erzählen uns noch heute davon.

Weihnachten 2020 – wir feiern es dennoch.

Ich bin sicher: Davon werden wir auch noch viele Jahre erzählen. Die Ersten, die die Heilige Nacht erleben, sind die Hirten. Nachtarbeiter sind sie, und ihre Nächte sind wirklich unklar und dunkel. Zu ihrem Leben gehört, es so zu nehmen, wie es kommt. Von einem Moment auf den anderen hellt sich in dieser Nacht ihr dunkler Alltag auf. Plötzlich passieren wunder-volle Dinge.

„Und des Herrn Engel tat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. Was man nicht kennt, jagt einem Angst erstmal ein: Und sie fürchteten sich. Sehr.“

Diese eigentlich unerschrockenen Burschen: Fürchten sich. Sehr. Es hat einen tiefen Grund, dass sich in dieser Nacht gerade über denen der Himmel öffnet, die in Dunkelheit leben. Diese Nacht wird besonders für die Menschen heilig, die mit schwierigen Umständen zurechtkommen müssen. Mit Angst. Mit Leid. Mit Verlieren und Traurigsein. Der Himmel ist denen offen, denen Angst und Sorge in die Knochen kriechen. In den letzten Monaten müssen wir begreifen, wie verletzlich Leben und Gesundheit sind. Wir alle hier und in aller Welt sind gemeinsam betroffen. Wir können nicht damit rechnen, von allem verschont zu bleiben. Das Fürchten der Hirten können wir dieses Jahr viel intensiver nachempfinden. Wie gut, dass es die Hl. Nacht gibt. Jedes Jahr wieder. Aber doch immer anders.

Jetzt kommt sie genau richtig. Man möchte es heute laut heraustrompeten: „Gott, deine Klarheit soll heute auch in unseren Alltag hineinleuchten! Und lass unser Herz diese Worte heute genauso hören und erreichen wie die Hirten: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude. Heute. Und sie soll allem Volk widerfahren. Euch ist der Heiland geboren. Heute.“ Da beginnt die Nacht heilig zu werden. Ein Mensch. Ein Gotteskind im Stall. Gott ist mit einem mal ganz nahe. Sichtbar. Greifbar. Verletzlich.
Himmel und Erde berühren sich.

Und die Hirten? Sie sagen: „Das will ich sehen. Das muss ich mit meinen eigenen Augen sehen.“ Faktencheck. Kommt! Schnell! Eilend! Wenn das stimmt… Diese Worte laufen rund in ihren Köpfen: „…große Freude, euch… heute… geboren…“ „Da – liegt es das Kindlein auf Heu und auf Stroh. Maria und Josef betrachten es froh. Die redlichen Hirten…“ – sind die Ersten am Stall. Sie sehen und staunen still und stumm. Große Freude… Heiland. Heute geboren. Uns. Stille Nacht, Heilige Nacht. „Die Hirten haben es gut“, denke ich leicht neidisch. Alles so klar. Nein, ich möchte nicht das ganze Leben mit ihnen tauschen. Aber: diesen Moment: Ein offener Himmel und diese Klarheit des Herrn. Ich empfinde mein Leben eher als ein Suchen.  Wie gehe ich mit der neuen Herausforderung um, mit der ich nicht gerechnet habe? Kann ich dem Glück vertrauen, das es ja auch gibt? Wie bewältige ich das Schwere, das ungefragt in mein Leben eindringt? Die Hirten: Sie sehen: Licht. Sie sehen: Das Kind. Sie hören: „Fürchte euch nicht!“ Der Heiland. Geboren. Euch. Heute. Gott ist uns ganz nah. Jetzt. Das ist genug, um loszugehen, ins Unbekannte, ins Leben. Diese drei kleinen Worte: Fürchtet euch nicht! Und ich wünsche mir, dass da immer jemand ist, der mir, wenn ich es brauche, sagt: „Fürchte dich nicht!“ Und dass ich, wenn jemand es braucht, da bin und es ihm oder ihr sage: „Fürchte dich nicht!“ Ich hoffe, dass es immer wieder Menschen einander sagen: „Du bist nicht allein. Fürchte dich nicht!“

Das Kind in der Krippe wird später auf seinem Weg immer wieder Menschen diese drei Worte sagen. Nicht unbedingt genauso. Es kann auch so klingen: „Selig sind, die da Leid tragen. Ihr sollt getröstet werden.“ Und er muss es sich sicher selbst auch oft sagen, denn er geht dem Leid nicht aus dem Weg. Das sehen wir ja hier am Altar. Auf jeden Fall weiß er, wovon er spricht. „Fürchte dich nicht!“ – Weihnachten in drei Worten! An der Krippe geht’s los, das Leiden am Kreuz, und dann wieder eine heilige Nacht, eine Osternacht. Am Ende muss sogar der dunkle Tod beiseitetreten. Das Krippenkind lebt. Und wir sollen auch leben. Heute sagen wir es deshalb auch besonders unseren Älteren und den Kranken und denen, die sich einsam fühlen: „Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren. Gott ist heute nahe.“

Und wir sagen es all denen, die gerade jemanden verloren haben und die Existenznot kennen. Wir sagen es heute denen, die sich um einen Menschen sorgen, helfen möchten und es nicht können. Wir sagen es heute denen, die bis zur Erschöpfung Menschen versorgen, die um ihr Leben ringen: „Durch Euch leuchtet Licht da, wo es traurig und im Herzen dunkel ist.“ Wir sagen es denen, die Angst vor der Zukunft haben: Fürchtet euch nicht! In der Krippe liegt Gottes Liebe zu allen Menschen – zum Greifen nah. Lasst uns im Geist dieses Kindes zusammen in dieser Zeit wirken. So werden wir es miteinander schaffen.

Und nächstes Jahr wollen wir uns wieder hier treffen, hoffentlich viel näher beieinander, und wieder uns diese Worte sagen lassen. Dann wissen wir, dass wir zusammen auch Krisen meistern können. Fürchte euch nicht. Euch ist heute der Heiland geboren.

Amen.