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Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis

Wie geht Frieden? – 1. Mose 13,1-13

Liebe Radiohörerinnen und –hörer!


Liebe Gemeinde!


Yocheved Lifschitz wurde vergangenen Montag nach aus furchtbarer zweiwöchiger Geiselhaft der Hamas freigelassen. „Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagte die 85-jährige am Tag danach in Tel Aviv. Ein Video der Freilassung zeigt, wie Yocheved Lifschitz im letzten Moment noch einmal umkehrt. Sie drückt einem vermummten Hamas-Terroristen zum Abschied die Hand und sagt „Shalom“. Das ist das hebräische „Moin!“. So grüßt man sich in Israel, wünscht sich dabei aber mehr als einen schönen Tag, nämlich Frieden. Dies ist ein seltener wohltuender Moment der Menschenfreundlichkeit in diesem aktuellen Konflikt. So grausam wurde er von Hamas-Terroristen angezettelt. Aber wie weit heruntergekommen ist der unzivilisierte Umgang, wenn ein einfacher Handschlag und ein „Shalom“ solch große internationale Aufmerksamkeit erregt. Yocheved Lifschitz‘ Mann ist immer noch in Geiselhaft. Was mit ihm ist, weiß die Familie nicht. Furchtvolle Ungewissheit. 

Wie geht Frieden?


So. Auf den anderen zugehen. Die Hand ausstrecken. Miteinander reden. Ihm Frieden wünschen. Sogar dem Gegenüber. Dem Gegenspieler. Dem Widersacher. Dem Konkurrenten. Dem Kontrahenten. Dem Gegner. Der Gegnerin. Dem Feind. Es braucht viele solcher Hände, die sich dem anderen entgegenstrecken, es braucht viele solcher Gesten. Und es sieht ganz anders aus in unserer Welt.

Ich erzähle uns eine andere Konfliktgeschichte aus dem Reichtum unserer jüdisch-christlichen Tradition. Es lohnt sich, ihr nach-zudenken. Sie steht im Ersten Testament, im 1. Buch Mose.

Um es vorwegzunehmen: Ich habe heute kein Patentrezept, wie Frieden auf der großen Bühne klappen wird. Das braucht viel guten Willen, viel Arbeit und Gespräch, viele kleine Schritte. Ich bin überzeugt, dass wir aus der Bibel viel lernen können, wie es gelingen kann, Konflikte anders zu lösen als nur mit der großen Kanone. Das ist in Wirklichkeit sehr gedankenarm und primitiv. Krieg ist eine Krankheit, keine Lösung. Dazu ist er menschenverachtend und todsicher tödlich. Und dann gibt es ja auch nicht nur die großen Konflikte. Nahe sind uns auch die kleinen, der Streit unter Geschwistern, unter Partnerinnen und Partnern, unter Kolleginnen und Kollegen, unter Nachbarn usw.

Ich erzähle von Abraham und Lot. Die beiden stehen auf der Hochebene zwischen Mittelmeer und dem Jordantal, etwa 20 km nördlich des heutigen Jerusalems. Ein Gipfeltreffen der frühen Zeit. Sie sind losgezogen. Gott hatte Abraham und seiner Sippe gesagt: „Geht in das Land, das ich euch zeigen werde. Mein Segen geht mit euch.“ Mit großen Hoffnungen waren sie losgezogen. Abraham, der Onkel, schon alt – Lot ist sein junger Neffe. Ihr Blick schweift über die Weite des Landes. Abraham spürt: Hier entsteht schlimmer Zank und Streit. Der karge Boden gibt nicht so viel her, wie sie sich erhofft hatten. Sie haben beide große Herden, großen Besitz. Zwischen den Hirten von Abraham und Lot hat es schon wilde Schlägereien gegeben. Und auch zwischen den beiden Clanchefs Abraham und Lot war das Klima eisig geworden. Sie sprachen viel weniger miteinander als sonst. Das große Problem: Wer hat das Recht, seine Tiere auf eine frische Weide zu schicken? Wer darf seine Tiere an den Wasserlöchern tränken? Es reicht einfach nicht für beide. 

So entstehen Konflikte bis heute: um Macht, um Land, um Lebensraum, um Lebensgrundlagen wie Wasser und Boden, um Rohstoffe, um wirtschaftliche Vorteile. Ganz leicht kann dieser Konflikt eskalieren. Abraham und Lot können ihre Hirten aufeinander losgehen lassen. Vielleicht gewinnt der Stärkere. Vielleicht verlieren aber auch alle. Gewaltvolle Möglichkeiten sind immer schnell zur Hand. Abraham überlegt lange, wie es weitergehen kann. Er sieht nur einen Ausweg: Wir müssen uns trennen. Wir müssen das Weidegebiet untereinander aufteilen. Jeder wird dann sehen müssen, wie er damit zurechtkommt. Das ist die biblische Idee einer Zwei-Staaten-Lösung im Heiligen Land. Jahrtausendealt. Aktueller denn je. So geht Frieden.

Das klingt so einfach. Ist es aber nicht. Sofort stellt sich die nächste Frage: Wer bekommt welche Hälfte des Landes? Da gibt es auf der einen Seite den steinigen trockenen Westen. Der Wind pfeift heiß darüber hinweg. Mehr Wüste als Land. Und da ist der Hang zum Jordantal hinab. Da ist Wasser, da ist saftiges Grün, da wächst und blüht es. Wie ein Garten Eden.

Also:   Wir müssen uns trennen – aber wie? Abraham trifft eine weitreichende Entscheidung: Ich biete Lot an, auszuwählen, welches Stück Land er möchte. Ich bin bereit, um des Friedens willen nachzugeben, ja, auch Nachteile für mich in Kauf zu nehmen, ja, auch Verlierer zu sein. Ein einfacher Satz bremst die Dynamik des Konfliktes: „Wir sind doch Brüder! Es soll kein Zank sein zwischen dir und mir und zwischen meinen und deinen Hirten.“ Krieg ist das Allerschlimmste, was passieren kann. Krieg ist das Ende aller Menschlichkeit.Es ist eine simple Einsicht: Wir sind doch Brüder und Schwestern. Yocheved Lifschitz‘ Handschlag mit ihrem Entführer: Lass uns doch wie Geschwister in aller Verschiedenheit vernünftig und friedlich miteinander umgehen.Auch Ukrainer und Russen waren einmal Brüder. Brudervölker nannten sie sich. Und jetzt führen sie einen Bruderkrieg. „Bruderkrieg“ ist eigentlich ein vollkommen unmöglicher Begriff. Krieg geht so, dass die Russen sagen: „Die Ukrainer sind Nazis und Feinde Russlands.“ Frieden geht so, dass einer dem anderen in Erinnerung ruft: „Wir sind doch Brüder! Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir.“

Abraham geht noch einen Schritt weiter. Er pocht nicht auf sein Alter, nicht auf irgendwelche Vorrechte. Im Gegenteil: Abraham lässt dem Jüngeren die Wahl. Um des Friedens willen ist er bereit, nachzugeben. Und Lot sucht sich das Filetstückchen aus. Der Klügere gibt nach. Der Klügere macht Platz. Abraham hat erkannt, dass es Wichtigeres und Wertvolleres gibt als zu gewinnen. Er sieht: Der Frieden ist ein unschätzbares Gut und Geschenk. Dafür nimmt er auch das trockene Land im Westen. Das ist der Preis für den Frieden.

Ich frage mich, warum Abraham das so konnte: Verzichten, Zurückstehen, Nachgeben, Nachteile in Kauf nehmen. Zwei Gründe sehe ich: Ich glaube, dass Abraham auf diesen Segen vertraute, den Gott ihm zu Beginn mit auf seinen Weg gab: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ Er geht felsenfest davon aus, dass Gott selbst seine Verheißung wahrmachen wird und dass er Gutes für ihn will. Und Reichtum ist nicht alles. Wer sich Gottes Führung anvertraut, für den wird immer genug da sein, und zwar nicht auf Kosten anderer.

Und der zweite Grund: Abraham hatte das Gebiet, das er bekommt, schon einmal durchwandert. An zwei Orten hatte er schon Altäre errichtet. Er weiß: „Da, wo ich nun hinziehe, kann ich Gott anrufen und verehren.“ Das ist ihm vorrangiger als eine große Herde, viel Geld und Gut.

Und von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Jesus.

Das Gipfeltreffen mit seinen Jüngern auf dem Berg nutzt Jesus für Spitzenworte.Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen – das sagt er in einer Welt, in der man schon damals den Eindruck hatte, dass es die Skrupellosen sind, die sich die Welt unter den Nagel reißen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen – spricht er, obwohl sich ein kriegführender Kaiser wie ein Gott verehren lässt. Und wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Das sagt er zu Menschen, die in dieser Situation normalerweise schon auf dem Weg zum Rechtsanwalt wären. Sogar Feindesliebe empfiehlt Jesus. Ist das naiv? War Jesus ein Spinner? Auf jeden Fall war seine Empfehlung erstmalig, einmalig, einzigartig und außergewöhnlich. Feindesliebe heißt ja nicht: Lass dir alles bieten! Das ist kein Kapitulationsfrieden. Sondern: Sei klüger als dein Feind. Hab den Mut zum ersten Schritt. Frieden ist kein Ziel, er ist ein Weg. Und dieser Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Michael Gorbatschow hat einmal gesagt: „Die Bergpredigt Jesu ist im Atomzeitalter das Überlebensprogramm der Menschheit.“ Unsere deutsche Einheit ist auch deshalb friedlich erfolgt, weil auf die Anwendung von Gewalt verzichtet wurde. Gorbatschow verweigerte den Schießbefehl auf junge Menschen. So geht Frieden.

Und was hat dies alles mit den gegenwärtigen Krisen im Nahen Osten, in der Ukraine, im Sudan zu tun? Was, wenn es nicht um eine gute gemeinsame Zukunft geht, sondern um Unterwerfung und Demütigung Kriegsziele sind? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, liebe Gemeinde. Der Predigttext heute bietet keine Rezepte dafür, wie der Friede in Israel und in der Ukraine möglich ist. Einem aggressiven Kriegstreiber muss man entschlossen entgegentreten. Aber die Geschichte der Trennung von Abraham und Lot zeigt, wie eine jüdisch-christliche Friedenshaltung aussehen kann und aussehen muss. Wir dürfen uns nicht beteiligen an der Zerstörung des Gedankens der Brüderlichkeit, der Geschwisterlichkeit. Wir dürfen nicht den anderen dämonisieren, sie zu Tieren herabwürdigen, auch wenn das angesichts grausamster Untaten schwer fällt. Abraham und Lot – ihre Geschichte zeigt uns, dass die Dynamik der Gewalt nur unterbrochen wird, weil einer sich selbst zurücknimmt. Das ist keine Empfehlung an Ukrainer*innen und Israelis. Das steht mir nicht zu. Aber es ist eine Empfehlung an uns. Wir können uns zurücknehmen und auch eine zeitlang verzichten, Sieger sein zu wollen. Abraham konnte das, weil er Gott auf seiner Seite wusste. Ich bin mir sicher, dass es bei uns genauso sein wird. Frieden ist möglich.

Amen.

Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen, gib mir den Mut zum ersten Schritt

S. Tido Janssen