Liebe Teilnehmende an dieser Gedenkveranstaltung!
Gespenstische Stille. Vor ein paar Tagen war ich hier. Allein. Ganz allein. Dann herrscht hier – gespenstische Stille. Ich habe versucht, mir vorzustellen, was hier war. Ein Haus. Ein Bethaus. Eine Synagoge, d.h. ein „Haus der Zusammenkunft“. Hier kommt aber niemand mehr zusammen. Oder Hebräisch: Beth Knesset – ein Haus der Versammlung. Hier versammelt sich aber niemand mehr. Außer – Gott sei Dank – heute. Und immer wieder am 9. November.
Wir sind hier, weil nicht vergessen können und wollen. Wir versammeln uns hier, weil wir empfindsam bleiben für geschehenes Unrecht und nicht zulassen wollen, dass neues Unrecht und Hass auf Juden in Aurich oder wo auch immer sich Bahn bricht. Ich glaube wir müssen genau hinspüren, was hier war und wer hier war und wer jetzt nicht mehr hier ist. Und dann herrscht hier: Gespenstische Stille. Eine bedrückende Leere. Keine jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich hier versammeln, um die Thora zu lesen und zu hören. Keine Juden, die ihre schönen Glaubensfeste feiern:
- Rosch Haschana – das jüdische Neujahrsfest
- Jom Kippur – das große Versöhnungsfest zwischen Gott und Menschen.
- Pessach – die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten
- Niemand, der hier das Schma Jisrael betet, das grundlegende Glaubensbekenntnis des Judentums: Schema jisra’el adonai elohenu adonai ächad: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein!“
- Auch keine Gesänge klingen: Hewenu Shalom alächem. „Wir bringen Frieden euch allen.“
Das Gotteshaus, das hier bis zum 9. November 1938 stand, wurde mutwillig von einem fanatischen SA-Trupp angezündet, abgebrannt, lichterloh. Und kein lauter Auricher Aufschrei. Stille. Gespenstisch.
An der brennenden Synagoge vorbei wurden die Auricher jüdischen Männer, Frauen und Kinder unter wüsten Beleidigungen und Misshandlungen zur sog. „Bullenhalle“ an der Emder Straße abgeführt. Die meisten Männer unter 60 Jahren wurden in das Konzentrationslager Sachsenhausen überführt. Nur noch Stolpersteine erinnern an sie. Und hier die Gedenkstelen. Ein Straßenname, ein Buch von Hannelore Wolff. Und wir hier heute. Wir stemmen uns gegen das Verstummen.
Wir sind heute viele. Gott sei Dank! Aber in Wirklichkeit sind wir immer noch viel zu wenige. Heute an diesem 9. November, vier Wochen nach dem 7. Oktober. Wir alle brauchen ein Mahnmal des Fühlens in unserem eigenen Innern. Wir müssen das Ungeheuerliche in uns fühlen, das hier geschehen ist und das geschieht.
Die terroristischen Taten der Hamas sind barbarisch. Nichts, aber auch gar nichts bietet eine Rechtfertigung für die grausamen Attacken auf Menschen in Israel. Die Geiseln der Hamas und ihre Angehörigen – in Todesängsten Tag für Tag. Fürchterlich. Nichts, aber auch gar nichts kann eine Ausrede dafür sein, dass jüdische Schulkinder in Deutschland Angst auf ihrem Schulweg haben müssen, weil Steine fliegen. Antisemitismus verdient nicht das leiseste Verständnis. Er führt nur wieder zu – gespenstischer Stille. Angst schleicht sich in unsere Herzen, so fürchterlich aktuell ist heute dieser 9. November 2023.
Etwa 30 % der deutschen Bevölkerung meinen, dass endlich ein Schlussstrich unter die Diskussion um Juden und die Verbrechen der NS-Zeit gezogen werden sollte. Ich halte das für sehr gefährlich, weil es Antisemitismus und judenfeindlicher Rede Tür und Tor öffnen könnte. Innerhalb von 14 Tagen im Oktober gab es nur in Niedersachsen 34 antisemitische Gewalttaten.
Was aber dann?
„Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein je.“
Das sagte kurz nach dem 7. Oktober Daniel Barenboim, der große Dirigent. Er leitet das West-Eastern Divan Orchestra. Ein Großteil der Mitglieder stammt aus Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten, aber auch aus anderen arabischen Ländern wie Jordanien und Libanon. Hinter dem Projekt steht die politische Überzeugung, dass es keine militärische Lösung des Nahostkonfliktes geben kann und dass die Schicksale von Israelis und Palästinensern untrennbar miteinander verbunden sind. Barenboim sagt: „Die größte Gefahr ist doch, dass alle die Menschen, die sich so sehnlichst Frieden wünschen, von Extremisten und Gewalt übertönt werden. Die Basis muss sein:
Es gibt Menschen auf beiden Seiten. Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg. Das Leiden unschuldiger Menschen auf egal welcher Seite ist absolut unerträglich.“
In diesem Geist musizieren sie zusammen, fühlen gebrochene Herzen über die terroristischen Angriffe der Hamas. Entscheidend ist doch die Bereitschaft zur Empathie, die Bereitschaft, die Situation der Anderen nachzufühlen. Verloren sind wir in dem Moment, wo wir einander die Menschlichkeit absprechen. Beide Seiten müssen ihre Feinde als Menschen erkennen und versuchen, ihren Schmerz und ihre Not nachzuempfinden.
Und da sind wir bei uns selbst. Wir alle können durch Empathie mehr bewirken und weitergeben als wir glauben. So verändern wir etwas im Kleinen. Im Großen ist die Politik gefragt. Wir müssen uns heute auch eingestehen, dass es nicht reicht, Empathie zu empfinden und zu Gedenktagen zusammenzukommen. Viele Menschen erreichen wir so nicht mehr. Nichtwissen und Falschinformationen über den Holocaust, den Nahostkonflikt und den Antisemitismus sind vor allem in digitalen Medien viel zu weit verbreitet. Ich glaube: Wir brauchen eine neue Bildungsoffensive auf Kanälen, die die Menschen tatsächlich heute auch erreichen. Wir brauchen ein Zusammenwirken mit Influenzern mit großer Reichweite, wir brauchen ausgebildete „Digital Streetworker“, aber auch Arbeiten wie die der Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedens-dienste, Fahrten zu Gedenkstätten und nach Israel. Wir brauchen Mut, Zivilcourage, Herzensbildung und politische Bildung. Antisemitismus ist wie eine ewig schlummernde Pestbeule. Sie wartet nur auf den kleinsten Anlass, um wieder auszubrechen. Unsere Gesellschaft ist nicht immun gegen Hass und Hetze. Von Links und Rechts, aus islamistischen und leider manchmal auch aus bürgerlichen Milieus quillt Antisemitismus. Wir wissen wohin es führt. Man kann mit dem Bösen nicht ein bisschen flirten. Man wird von ihm völlig aufgesogen. Das sage ich auch allen, die meinen, wenn sie die AfD wählen, nur eine Protestpartei zu wählen. Wer der Barbarei nur einen Schritt entgegentritt, läuft ins Verderben. Wer nur einen Bissen von der Frucht des Bösen probiert, ist vergiftet.
Wir wollen keine neue gespenstische Stille. Deshalb müssen wir uns lautstark an Tage wie den 7. Oktober und den 9. November erinnern. „Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein je.“
S. Tido Janssen