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Frieden – Zukunft – Hoffnung: Predigt am Volkstrauertag 2023

19.11.2023 – Jeremia 29

Predigttext: Jeremia 29

Einleitung: Die fremde Macht Babylon hatte Israel überfallen und besiegt. Das geschah etwa 600 Jahre vor Christi Geburt. Soldaten haben Geiseln in Israel genommen und sie nach Babylon entführt und verschleppt. Die ganze politische Führungsschicht, die Geistlichkeit und die Wirtschaftsführer gehörten dazu. Schon lange dauerte dieser Zustand an. Da schreibt der Prophet Jeremia aus Jerusalem einen Brief an seine Landsleute in Babylon. Wir hören heute Worte aus Jeremias Brief, wie sie im 29. Kapitel seines Prophetenbuches stehen.

In dem Brief stand: So spricht der Herr Zebaot, der Gott Israels!Das ist meine Botschaft für alle in der Verbannung,die ich aus Jerusalem nach Babylon weggeführt habe:Baut Häuser und lasst euch darin nieder!Legt Gärten an und esst, was dort wächst!Heiratet und zeugt Söhne und Töchter!Verheiratet auch eure Söhne und Töchter,damit auch sie Kinder bekommen!Eure Zahl soll dort wachsen, nicht abnehmen.Seht zu, dass es der fremden Stadt gut geht,in die ich euch verbannt habe!Betet für sie zum Herrn!

Denn geht es ihr gut, wird es auch euch gut gehen. Und ihr werdet in Frieden leben. So spricht der Herr: Ich weiß, was ich mit euch vorhabe. Ich habe Pläne des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken. Ihr werdet zu mir rufen.

Ihr werdet kommen und zu mir beten, und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen, und ihr werdet mich finden. Ja, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, dann lasse ich mich von euch finden. Ich werde euer Schicksal wenden. Ich werde euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verbannt habe. Ich bringe euch an den Ort zurück, von dem ich euch weggeführt habe.

Liebe Radiohörerinnen und –hörer! Liebe Volkstrauertagsgemeinde!

Trauriger Tag. Volkstrauertag. Die Fahnen wehen auf Halbmast. Es ist das äußere Zeichen unserer „Volkstrauer“. Wo steckt aber die Trauer? Spüren wir sie? Berührt sie uns? Hängt unser Herz auch auf Halbmast? Es ist so lange her. 80 Jahre plus minus. Da kann die Trauer doch auch mal bewältigt sein, könnten wir meinen.

Trauriger Tag. Ja, er ist tot. Justus. Justus Janssen. Der ältere Bruder meines Vaters. Sein Name ist in Stein gemeißelt auf einem Denkmal für Kriegstote in einem Dorf nahe Bremen. Ab und zu halten wir da an. Und mein Vater: dicht an dem Stein, zeigt mit der Hand auf den Namen: Justus Janssen. Vermisst. Irgendwo in Frankreich. Nie wieder etwas von ihm gehört. Er ist einfach nicht wiedergekommen. Verschollen. Kein Grab. Nichts. Das Warten nach dem Kriegsende war Tag für Tag vergeblich. Immer mehr wurde für die Eltern und die Geschwister zur traurigen Gewissheit: Er lebt nicht mehr. Jetzt nicht mehr.

Traurig. Ein Einzelschicksal. Ein Schicksal von Millionen anderen. Aber was heißt das schon: Millionen.

Mensch für Mensch. Einer und noch einer und noch einer…

Wie war Deine Familie vom Krieg betroffen? –

Heute sterben sie wieder: Dmitri, Vladislav und Kyrylo.

David, Moshe, Ytzchak – Mohamed, Sami, Mahmud.

Einer, Tausende, Zehntausende. Mensch für Mensch.

Furchtbar. Nicht nur traurig ist das. Für viele ist es ein Trauma. Dazu heute die Angst um Geiseln: der zwölfjährige Eitan. Er wurde auf einem Motorrad nach Gaza entführt. Sein Vater auch. Die Mutter Batsheva und ihre beiden Töchter konnten sich retten. Eitan und sein Vater sind nur zwei von 240 Geiseln der Terrorgruppe Hamas. So viel Angst um sie. Nicht auszuhalten. Und wieder werden sie eines Tages neue Mahnmale für die Kriegstoten errichten und Reden halten und das „Nie wieder!“ beschwören.

Kriegsgräuel ziehen auch uns runter. Viele von uns fühlen sich deprimiert und niedergeschlagen. Man möchte es nicht sehen und kann es nicht mehr hören. Und dies sind ja nicht die einzigen Krisen.

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir! Herr, höre meine Stimme. Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.“ Es gibt heute so viele Gründe für einen Volkstrauertag. 

„Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht, sei da, sei uns nahe, Gott.“ So haben wir gemeinsam gesungen. Und Gott sagt: „Ich weiß, was ich für Gedanken über euch habe. Ich habe Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken.“

Das klang damals und klingt heute wie eine schöne Illusion. Wie es damals war, hat uns Markus Husen vorhin vorgelesen. Die gesamte politische, religiöse und wirtschaftliche Führungsschicht war in Geiselhaft, in Babylonischer Gefangenschaft. Keine Aussicht auf Rückkehr und Zukunft. Eine perfide Kriegstaktik. Jede Aussicht auf Besserung soll von vornherein ausgeschlossen sein.

Schnell wird es auch nicht gehen. Das sagt Jeremia auch nicht. Im Gegenteil. Richtet euch erst mal ein: Baut dort in Babylon Häuser! Legt Gärten an! Heiratet! Bekommt Kinder! Und betet! Das heißt: Richtet Euch in dieser ungeliebten befremdlichen Situation ein. Das wird dauern. Aber: Mut zur Zukunft ist auch angesagt. Frieden wird kommen. Und Zukunft und Hoffnung. Darauf könnt ihr euch fest verlassen. Ist das eine billige Vertröstung? Zu sehen war davon jahrelang nichts. Aber in ihnen schlummerten diese Gedanken. Und diese Gedanken setzten Kräfte frei. In schwieriger Zeit halten sie durch. Da ist ein Funke in ihnen. Ich hoffe. Ich hoffe auf Frieden. Es wird für mich eine gute Zukunft geben. Hoffnungsvolle Gedanken entfalten eine unglaubliche Kraft.

Zwei Wochen nach dem Mauerfall am 9. November 1989 war ich in Leipzig. Als junge Pastoren am Ende unserer Ausbildung haben wir Kollegen dort besucht. An einem Montagabend konnten wir in der reformierten Kirche in der Innenstadt Leipzigs an einem Friedensgebet teilnehmen. Unsere Gastgeber haben es dort gestaltet. Kerzen erleuchteten die Kirche. Selten habe ich derart Gänsehaut beim Hören eines Bibeltextes bekommen als in der durchaus noch angespannten Situation vorgelesen wurde: „Selig sind die Frieden stiften. Sie werden Gottes Kinder heißen.“ Ein Satz von Jesus. Ein Gottesgedanke. Es wurde für einen friedlichen Abend gebetet. Es wurde gemeinsam gesungen. Und dann ging es raus aus der Kirche auf den Innenstadtring zur Montagsdemonstration. Menschen – so viele, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen. Und – es blieb friedlich. Ich habe die Kraft der Gedanken gespürt: Die Menschen waren davon beseelt. Wir wollen Frieden und wir wollen Freiheit in dieser Stadt. Wir wollen das Beste für diese Stadt. Wir wollen eine gute Zukunft für uns. Diese Gedanken entwickelten revolutionäre Kraft. Ein Mitglied der Staatsführung musste später zugeben: „Wir haben mit allem gerechnet, aber nicht mit der Kraft von Kerzen und Gebeten.“

„Ich weiß, was ich für Gedanken über euch habe, sagt Gott. Es sind Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken.“

50 Jahre nach dem Tod des verschollenen Justus Janssen in Frankreich wird in Rotenburg/Wümme ein Junge geboren: Er heißt: Justus Janssen. Mittlerweile ist er 30 Jahre alt. Wir hoffen: Er wird kein Babylon erleben müssen und keinen Krieg. Sondern Frieden und eine gute Zukunft. Wie sein Bruder auch. Wie alle Kinder. Wie die Menschen in der Ukraine und in Russland. Wie die Geiseln in Gaza und ihre Angehörigen. Wie die Menschen in Israel und Palästina. Wie Deine Familie auch. Wie wir alle. Amen.

„We shall overcome“ – Wir werden überwinden: Angst, Hass, Krieg. Dieses Lied ist kein naiver frommer Wunschtraum. Es ist ein Protestlied gegen Leid und Unterdrückung. Es war ein Schlüsselsong der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 60er Jahre. Es wurde 1963 von Joan Baez vor über 200.000 Menschen beim March on Washington vor dem Lincoln Memorial gesungen. Und Martin Luther King hielt seine berühmte Rede „I have a dream“.

Das gemeinsame Singen verringert die Angst vor Gewalt. Das Singen schweißt zusammen und macht Mut.

„We shall overcome“ – darin steckt die revolutionäre Kraft der Hoffnung auf Frieden – auch heute am Volks-trauer-tag.                               

Wir singen: We shall overcome

S. Tido Janssen