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2. Oktober 2021 Psalm 103,2 – „…und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat

Nicht jeder, nicht jede hat Grund zu danken, besonders in dieser Pandemie. Auch wenn es im kirchlichen Kalender steht. Ich kann das auch verstehen. Es soll heute auch niemand zum Dank verordnet werden. Aber ein wenig Nachdenken könnten wir schon über den Sinn und das Wesen des Dankens.

Im Leben dankbar zu sein ist kein Sahnehäubchen, das ich manchmal drauflege, auf das ich aber auch verzichten könnte, wann immer ich will. So geht Dankbarsein nicht. Im Leben dankbar zu sein ist eine Lebenshaltung, ohne die man nicht froh werden kann – nie froh werden kann, denke ich. Wer mit der Dankbarkeit spielt wie mit einem Mittel zum Zweck, hat sie nicht verstanden. Dankbarkeit sollte sein wie ein Bett, in dem mein Leben liegt. Ich darf nicht ohne sie leben wollen, sonst liege ich auf hartem Boden, auf dem die Bitterkeit wächst. Und es gibt kaum etwas Schlimmeres als einen bitteren, nörgelnden, alles kaputtredenden Menschen. Daran erinnert uns die Bibel mit einem sehr wertvollen Satz.

Wir kennen alle diesen Satz. Er steht im Psalm 103 und lautet: „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Es geht bei Dankbarkeit um das Nicht-Vergessen, um das Nicht-Übersehen – um einen Blick über die Grenzen meines Empfindens. Ich mag heute manches oder vieles als schlimm empfinden, zu Recht. Und dennoch erinnert mich der Psalmsatz daran, über meinem Empfinden nicht alles zu vergessen, was es auch gibt und was auch war – und immer mehr im Blick zu haben als nur mich selbst und mein heutiges Befinden.

Dankbarkeit ist die Kunst des Nicht-Vergessens: Meines ganzen Lebens, meiner Freunde und Familie, der Erde und ihrer Früchte, der Musik und der Kunst. Unzufrieden und bitter werden eher die Menschen, die nur sich sehen, die weder Umsicht haben noch Weitblick. Auch wenn ich heute und morgen vor Undankbarkeit jammern könnte oder wütend bin – ich soll die Tage, Monate oder Jahre nicht vergessen, in denen mir das Glück und die Gnade wie zu Füßen lag, unverdient. Niemand ist nur der Jammer dieses Tages oder dieses Jahres; jeder und jede ist auch das Glück der anderen Tage: Die Zuwendung von Menschen, die Freude an Kindern und Enkeln und Freundinnen; das Gelingen des Berufs; die empfundene Pracht in den Bergen oder am Meer, das wärmende Dach über dem Kopf und das sättigende Essen.

Ja, wir können auch dieses Jahr danken. Vielleicht nicht für dieses Jahr, aber für manches andere, das wir nicht vergessen wollen und nicht vergessen dürfen. Ich habe schon Menschen zugehört – erstaunt und ungläubig zugehört – die sagten: „Heute bin ich dankbar dafür …“ Und sie meinten einen Jammer, der viele Jahre zurückliegt. Heute, sagen sie dann und meinen: nach vielen Jahren – heute erkenne ich es als eine Hilfe.

 Ich sollte nicht darüber entscheiden, ob ich dankbar sein will oder nicht. Ich sollte es sein, so gut es geht. Nicht für alles, aber für vieles, was ich erlebt habe als reine Gnade oder als eine bittere Gabe, aus der ich dann aber auch gelernt habe. Meine Seele, vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.