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3. Juli 2022 Einfach menschlich

Dinuk war damals zwölf Jahre alt. Er war mein „Praktikumskind“ im Rahmen einer Qualifizierung zur ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstbegleiterin.
Dinuk war schwer krank. Er litt unter einer Muskeldystrophie und verlor immer mehr an Muskelkraft. Schon länger saß er im Rollstuhl. Einmal in der Woche habe ich ihn abgeholt und wir holperten durch die Heidelberger Innenstadt. Unser Ziel war der Media-Markt, wo Dinuk an einer Spielekonsole Autorennen zocken durfte. Danach schubberten wir wieder nach Hause. Er wohnte mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung, die für einen Menschen mit Behinderung nicht geeignet war.

Eine steile Treppe führte hinauf und seine zierliche Mutter mit ihren Rückenschmerzen musste Dinuk schultern und ihn hoch- und runtertragen. Aus versicherungstechnischen Gründen hatten wir Begleiterinnen die Weisung eine solche Aufgabe nicht zu übernehmen. Die ersten Male hat Dinuks Mutter mir gegenüber auch noch nicht gezeigt, wie schwer es ihr fiel. Bis sie irgendwann fragte: „Könntest du ihn tragen?“ Was tun? Natürlich hätte ich es gekonnt. Auch gewollt. Aber ich durfte es doch nicht. Ich hab‘ es nicht gemacht. Wie recht hatte sie, als sie dann sagte: „Das wäre einfach menschlich!“ Wie gerne würde ich die Zeit zurückdrehen! Jesus hätte ihn getragen! Er hat sinnvolle Regeln in Liebe auslegt. Ich glaube, dass es für viele Menschen in der Coronazeit solche Dilemmasituationen gab: „Hätte ich ihn nicht doch einfach in den Arm nehmen sollen?“ Bei jeder Beerdigung hören wir den Satz: „Wer ihr/ihm etwas schuldig geblieben ist an Liebe in Worten und Taten, bitte Gott um Vergebung.“ Wie gern würde ich Dinuk jetzt noch einmal nach Hause tragen! Oder weiter. Am liebsten auf den Berg mit dem Blick übers Neckartal. Aber Dinuk ist tot. Und während ich an ihn denke, höre ich die Stimme von Jesus: „Ich weiß, dass du ihn jetzt tragen würdest! Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe ihn nach Hause getragen. Und weiter. Deine Scham und deine Angst, die habe ich auch geschultert.“

Christiane Preising, Pastorin in Walle