Desktop

Tablet / Mobil

Desktop

Tablet / Mobil

16. Oktober 2021 Herbst

Es ist Herbst. Die Blätter der Bäume sind jetzt so wunderbar bunt. Rot, gelb, braun – in allen Farbtönen. Sie fallen herunter und verwandeln Wege in bunte Teppiche. Und auch die Kastanien fallen herunter. Wie gerne erinnern sich meine Kinder an den großen Pfarrgarten in Wiegboldsbur zurück. Zu dieser Jahreszeit war der Kastanienbaum vor dem Pfarrhaus immer voller Früchte. Jedes Jahr sammelten sie die Kastanien vor unserer Haustür auf. Sie dienten als Bastelmaterial für sich selbst, die Eltern-Kind-Gruppe oder auch den Kindergarten. Neulich, als ich alte Jacken zur Bethel-Kleidersammlung bringen wollte, fand ich zwei verschrumpelte Kastanien in einem Kinderwintermantel, den meine Große einmal getragen hatte. Offenbar hatte sie diese den ganzen Winter in der Tasche gehabt, sie hatten auch die Waschmaschine und viele weitere Jahre überlebt. Oft habe ich selbst auch jetzt noch den ganzen Winter eine Kastanie in der Jackentasche. Wenn ich die Hände in die Manteltasche stecke, finde ich sie und umschließe sie mit meiner Hand. Dann werden meine oft unruhigen Hände ganz ruhig. Und wenn es dann schon Winter ist, dann bringt die Kastanie den Herbst zurück. Die vielen Farben im Grau. Die Wärme der Herbstsonne in der Januarkälte.

Die Kastanie ist für mich auch ein Bild für uns Menschen. Wir sehen voneinander nur das Äußere. Nicht immer gefällt uns, was wir da sehen. Der ist immer so unfreundlich, sagen wir dann vielleicht. Oder: Die redet nie mit einem anderen. Vielleicht hält sie sich für etwas Besseres. Aber vielleicht sollten wir Menschen so ansehen, wie wir Kastanien ansehen. Da ist noch etwas unter der äußeren Schicht. Da sind nicht nur die Stacheln, da kommt noch was. Da ist der andere vielleicht sehr müde, und deshalb so gereizt und schlecht gelaunt. Da hat einer vielleicht Angst vor anderen Menschen oder ist schüchtern – deshalb spricht er niemanden an. Oder eine hat Kummer oder ist krank und deshalb so abweisend.

In der Bibel heißt an einer Stelle: Der Mensch sieht nur das Äußere. Ja, so ist das. Wir sehen nur das Äußere. Aber da ist noch etwas, wie bei der Kastanie.

Wenn ich frage und genau hinhöre, dann erzählt der andere mir vielleicht seine Geschichte. Dann verstehe ich besser, wie er der Mensch geworden ist, der er jetzt ist. Wenn ich sehe, dass eine andere ganz viel zu tun hat, nehme ich es ihr nicht übel, dass sie gerade keine Zeit für mich hat. Wenn ich weiß, dass jemand Kummer hat oder vielleicht Schmerzen, verstehe ich, dass er manchmal die Stacheln aufstellt.

Der Mensch sieht nur das Äußere. Aber Gott sieht das Herz an. Das macht mir Mut, selbst nicht nur das Äußere zu sehen. Sondern tiefer zu sehen. Zu versuchen, das Herz eines Menschen zu finden und für mich zu öffnen.

Neben den ganz „normalen“ Kastanien gibt es auch Esskastanien. In früheren Zeiten legte man diese gern in den Ofen. Und das roch dann so gut. Und die heißen Kastanien schmeckten lecker. Da zeigt eine stachlige Kastanie plötzlich eine ganz neue Seite! So geht es uns Menschen wohl auch: Wenn wir in die Wärme kommen, in die Wärme von Liebe, in die Wärme von freundlichen Worten und einem aufmunternden Lächeln, in die Wärme von Menschen, an denen uns liegt, dann fallen alle Stacheln ab.

Wenn wir uns Gott in die Hände legen, können wir da sein, wie wir sind. Gott sieht unser Herz an: das Harte, das Verletzte, das Enttäuschte darin. Sanft hält Gott mein Leben in seiner Hand. Dann brauche ich die Stacheln nicht mehr. Bei Gott bin ich sicher und geborgen.

Sabine Bohlen, Pastorin in Wiesmoor