Vorsichtig betritt sie den großen Raum mit hoher Decke und großen Fenstern. Schlicht, denkt sie. Das ist das erste Wort, das ihr einfällt. Hier lenkt wirklich nicht viel ab. Sie setzt sich auf eine der Bänke, lehnt sich an, schließt die Augen und öffnet sie wieder. Sie schaut nach vorne und sieht es. Ein großes goldenes Kreuz hängt an der Stirnseite der Kirche und fokussiert ihren Blick. Die Balken sind breit und laufen merkwürdig gezackt aus. Es scheint auch fast so, als ob der Längsbalken nur unwesentlich länger als der Querbalken ist. Wie ein Plus-Zeichen, irgendwie. Mathematik in der Kirche. Sie lächelt, wenn ihr Leben so einfach wäre wie eine Rechnung, die man lösen könnte. Da ein paar Dinge aufsummieren, dort ein paar Dinge abziehen. Manches multipliziert oder teilt sich: Geteilte Freude ist doppelte Freude. So ein Quatsch, im Moment ist ihr Leben eindeutig in eine Minusbewegung gekommen, sie ist krank. Sie hasst das Krankenhaus mittlerweile. Aber man will ihr dort helfen, das tut gut. Mit einer langwierigen Erkrankung muss sie im Moment sehr vorsichtig sein. Die Angst kriecht ihr in den Nacken – und dann noch die Ansteckung mit Corona. Das ist keine Tendenz zum kleinen Minus, wie ihr einmal ein Lehrer bei der Notenvergabe gesagt hatte. Sie schüttelt leicht den Kopf, nein, das ist ein gewaltiger Sturz ins Bodenlose. Und jetzt dieses Kreuz, das wie ein Plus aussieht. Und Gott hängt auch noch am Kreuz! Ein schwacher Gott, der noch nicht mal selbst dort hängt, sondern sein Sohn. Was macht sie bloß hier? Aber sie spürt und genießt es, wie schön ruhig es hier ist. Das tut gut: keine Kommentare, keine Informationsflut und widersprüchliche Aussagen, keine gut gemeinten oberflächlichen Worte wie: Das wird schon wieder! Hier ist es fast still, sie hört Autogeräusche. Alltag und doch etwas Anderes: Ein Moment der Stille. Sie schaut wieder nach vorne.
Ein Kreuz hat sie schon öfter gesehen, erschreckend oft an Straßenseiten, fällt ihr ein. Und im Urlaub in Süddeutschland ist sie einer Darstellung von einem Holzkruzifix in einer kleinen Barockkapelle begegnet. Ein schlaffer Körper hing dort an den Nägeln, tropfendes Blut – gemalt natürlich. Jesus hing eindeutig tot am Kreuz. Aber hier? Sie kann gar keine Nägel erkennen, hier streckt Jesus einfach die Arme aus, neigt sich minimal vor. Dieser Jesus hängt gar nicht am Kreuz, oder?
Vielleicht, denkt sie, vielleicht breitet er einfach seine Arme für mich aus. Vielleicht hat er noch etwas Kraft für mich übrig? Ist das schon ein Gebet, wenn mir das so wünsche? Sie atmet tief durch. Nochmal, schließt die Augen. Am Ende weiß sie gar nicht, wie lange sie dort in dieser schlichten Kirche gesessen hat. Als sie sich erhebt, merkt sie eine kleine Veränderung: Sie setzt ihre Füße anders, nicht gerade leichtfüßiger, aber ruhiger. Vielleicht, denkt sie, komme ich noch einmal wieder zum Kreuz. Da ist mehr Kraft als gedacht.