Wie kommt das Blatt aus dem Ast? Und dann erst diese Blüten? Es ist ein Wunder. Vor unserem Küchenfenster steht ein Magnolienbaum. Das Jahr über steht er meist unscheinbar da. Ab und zu sitzen ein paar Vögel in seinen Zweigen. Im Herbst verliert er alle Blätter und steht lange kahl da. Aber jetzt treibt er aus. Er steht in voller Blütenpracht. Er ist der erste Baum im Jahr, der aufblüht. Eine Augenweide. Immer um Ostern herum brilliert er mit frischen Farben. Für mich ist die Magnolie ein Fingerzeig, wieviel verborgene Lebenskraft in ihr steckt.
Nun wird es Ostern. Nach gefühlt endlos langer Zeit suchen Frauen ihren toten Freund auf dem Friedhof. Vergeblich. Das Grab ist für sie leer: „Hier ist er nicht!“ Das ist eine erschütternde Erkenntnis für sie. „Er lebt!“ Das können sie nicht glauben. Sie zittern vor Angst und sagen niemandem etwas, so sehr fürchten sie sich. Nur langsam fangen die ersten Zeuginnen und Zeugen an, die unglaubliche Nachricht zu verstehen. „Weißt du noch?“ Die Todtraurigen fangen an zu erzählen. Sie erinnern sich. „Brannte nicht unser Herz vor Begeisterung, als wir mit ihm unterwegs waren?“ Und sie wenden sich tatsächlich weg vom Grab. Da finden sie ihn wirklich nicht mehr.
Er lebt in ihnen. Und beim Erzählen leben sie auf. So viel gemeinsam Erlebtes tragen sie in sich. Was er gesagt hat: von Herzen freundlich sein, Frieden stiften, für Gerechtigkeit eintreten, helfen, wo Hilfe gebraucht wird, Neuanfänge ermöglichen. Da brechen plötzlich und unerwartet neue Lebensenergien in ihnen auf – wie bunte Blüten nach einem frostigen Winter. Ja, aufstehen und dem Leben mehr trauen als seiner offensichtlichen Vergänglichkeit. Da fängt Ostern an. Nicht irgendwann, sondern hier und jetzt. Aufleben. Aufstehen. Mit den Füßen glauben und hingehen zu denen, die nicht weiterwissen. Mit den Händen glauben und tun, was dem guten Miteinander dient. Dann steigt auch in unserer Gesellschaft wieder die Temperatur. Das Leben ist viel zu schön, um es den Todeskräften zu überlassen. Sollen doch lieber bunte Blüten treiben. Leben ist schön. Und ich gucke noch einmal auf den Magnolienbaum.
Tido Janssen, Superintendent im Kirchenkreis Aurich