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26. Juni 2021: Menschen tun einander weh

„Das kriegst du wieder!“ – wütend stürzt sich der Junge auf den anderen und trommelt wild auf ihn ein. Er will Genugtuung für ein Unrecht, das ihm der andere angetan hat. Solche Dinge werden bei ihm sofort mit den Fäusten geklärt. Später werden sie ihm beibringen, dass Gewalt keine Lösung ist. Er wird lernen müssen, sich zusammenzureißen. Oder er entdeckt andere Wege, es ihnen heimzuzahlen – denen, die ihn seiner Meinung nach auf irgendeine Weise ungerecht behandelt haben. Denn das kann man sich doch nicht gefallen lassen, oder?

Ich vermute, viele kennen solche Situationen, wo einem der Kragen platzt, wo man nicht mehr zurückstecken kann oder mag, wo man „auf 180“ ist und am liebsten sofort entsprechend reagieren möchte. Denn so ist das bei uns: Menschen tun einander weh. Menschen fügen sich Verletzungen zu. Ob mit Absicht oder aus Versehen, ob durch Gleichgültigkeit oder einfach nur Unaufmerksamkeit. Wo immer Menschen miteinander zu tun haben, werden sie auch aneinander schuldig – und man kann das nicht immer so leicht vergessen.


Nicht einmal Familien sind Orte, wo es sich schmerzlos und schuldlos leben lässt. Im Gegenteil: Gerade weil man sich da so nahe ist und so gut kennt, führt das manchmal erst recht zu scharfen Auseinandersetzungen und tiefen Verletzungen. Und dann ist Funkstille. Man spricht kein Wort mehr miteinander. Jahrelang. Man geht sich aus dem Weg, wenn es geht. Und das ist vielleicht sogar gut so, denn sonst würde die Situation möglicherweise schnell eskalieren, und dann?

Josef, der Sohn des Jakobs, entdeckt eine andere Möglichkeit. Tiefe Verletzungen hat er erlitten, aber zum Teil war er auch selbst mit daran schuld. Die ganze Familiengeschichte ist eine Geschichte voller Kränkungen und Verletzungen. Josef ist nicht das einzige Opfer. Seine Geschichte ist morgen Thema in vielen Gottesdiensten. Aber als es ihm später, nach Jahren, gut geht, sehr gut sogar, da entdeckt er: es ist genau diese Geschichte, dieser Weg, der ihn dahin gebracht hat, wo er jetzt steht. Es wurde ihm übel mitgespielt, ja, aber er ist auch bewahrt worden, und aus allem ist etwas Gutes erwachsen. So kann er am Ende sagen: Sie gedachten, es böse zu machen, aber Gott gedachte, es gut zu machen. Er ist versöhnt mit seiner Lebensgeschichte und kann sich schließlich auch mit seiner Familie versöhnen. Kann man von Josef lernen?


Er ist zufrieden mit dem, was aus seinem Leben geworden ist. Er hält das nicht für Glück oder seine starke Leistung, sondern er erkennt darin Bewahrung und Fügung durch Gott. Und er findet so Frieden mit sich und seinem Leben und auch mit seiner Familie.

Von Uwe Noormann, Pastor der Gemeinde Tannenhausen-Georgsfeld