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15. Mai 2022 Zum Staunen

Als der kleine Junge letzten Sonntag im Kinderwagen in die Lamberti-Kirche geschoben wird, guckt er. Große Kinderaugen gucken nach vorne, nach oben, links und rechts. Stilles Staunen. Ein heiliger Moment.

Ich staune auch. Ich schaue mich um in der Natur, und ich merke: Ich bin umgeben von Unendlichkeit.

Ich sehe den Himmel. Nein, da ist nicht nur die Erdatmosphäre, da ist das Universum, das Weltall. Hat es ein Ende? Nein! Ich kann mir kaum vorstellen, dass es immer weiter geht, immer weiter und weiter. Ich staune: Mitten in einem minus 270 Grad kalten Weltall gibt es einen kleinen, blauen Planeten, auf dem Leben möglich ist. Mitten in der unendlichen Leere des Alls ist da in genau passender Entfernung eine Sonne, die uns Licht und Leben spendet. Mitten in einer 13 Milliarden Jahre dauernden Weltgeschichte sind auf diesem kleinen, blauen Planeten: bin ich, sind wir und begreifen, wie wunderbar das alles ist.

Ich spüre meinen Atem: Wie die Luft meine Brust füllt und wie sie beim Ausatmen wieder klein wird. Ich habe gar keine Macht darüber. Ich kann die Luft anhalten, aber dann atme ich umso kräftiger wieder aus. Weder konnte ich meinen ersten Atemzug bestimmen noch werde ich Macht über den letzten Atemzug haben.

Ich glaube nicht, dass das alles Zufall oder eine Laune der Natur ist. Ich erkenne darin einen Gedanken Gottes, einen genialen noch dazu. Als alles fertig ist, lässt der Dichter der Schöpfungsgeschichte Gott selbst über die Schönheit seiner Schöpfung staunen: „Sehr gut“ ist alles geworden.

Staunen ist der Anfang des Glaubens. Gott ist einer, den wir erkennen, wenn wir genau hinsehen. Ich staune, dass überhaupt etwas da ist und nicht nichts. Ich staune, dass es in der Welt eine Ordnung gibt, Rhythmen wie Tag und Nacht, jede Woche einen heiligen siebten Tag und die Jahreszeiten. Das Problem mit dem Glauben ist nicht, dass er so kompliziert ist. Das Problem ist, dass er so einfach ist. Zunächst geht es ja mal um das ganz Offensichtliche.

In dieser Welt haben wir Menschen alle die gleiche Würde. Wir sind als Gottes Ebenbilder in sie hineingestellt und sollen sie bevölkern und sie uns untertan machen. Damals bedeutete das, in der überall bedrohlichen Natur zu überleben. Unsere heutigen Möglichkeiten, in den Kreislauf der Natur einzugreifen, lassen uns eher erschrecken. Und diese großen Möglichkeiten lassen unsere Verantwortung für die Erhaltung der Schöpfung umso mehr wachsen. Ob wir alle gemeinsam dem gerecht werden können? Das ist jetzt eine akute Überlebensfrage. Wir sind dran. Sich die Erde untertan zu machen heißt, sie zu bearbeiten und zu bewahren. Wenn wir schon am 5. Mai alle für dieses Jahr zur Verfügung stehenden Ressourcen dieser Erde aufgebraucht haben, leben wir zu exzessiv. Diese Maßlosigkeit tötet die Lebenschancen kommender Generationen. Das tut weh. Nach neuesten Studien wird sich unsere Erde schon 2026 um 1,5 Grad erwärmt haben. Die Naturwissenschaft und die Vernunft sagen: So geht es nicht weiter. Die bisherigen Maßnahmen reichen offenkundig bei weitem nicht. Zu staunen über die Schönheit der Schöpfung wird unseren Blick auf sie nachhaltig verändern. Das Staunen wird uns anspornen, dass auch Enkel und Urenkel darin „sehr gut“ leben können.

Tido Janssen,  Superintendent im Kirchenkreis Aurich