„Fasst du mal mit an?“ Meine Frau steht vor der Umzugskiste. Die ist aber auch schwer. Sicherlich ist das wieder eine von den Bücherkisten. Was sich alles so ansammelt im Laufe der Jahre. Wir sind vor einigen Wochen nach Leer umgezogen. Unsere neue Wohnung ist vollgestellt mit Umzugskartons, die alle darauf warten, ausgeräumt zu werden. Unser Leben, verpackt in unüberschaubar viele Umzugskartons. Das Auspacken ist wie Weihnachten. Denn in den Kartons ist oft nicht das Erwartete. Ganz viele Teile nehmen wir nach vielen Jahren das erste Mal wieder in die Hand. Besonders die Dinge vom Dachboden. Warum haben wir die eigentlich aufbewahrt? Weil man sie ja vielleicht noch mal gebrauchen kann? Oder weil Erinnerungen damit verbunden sind? Aber nun müssen wir uns von vielen Dingen trennen. Vieles geht ans Soziale Kaufhaus, manches verkaufen wir über Ebay und manches geht zur Deponie.
„Was ist das?“ fragt meine Frau und reicht mir einen handtellergroßen Stoffstreifen. Ein längliches, festes Stück Stoff, liebevoll mit einem Kreuz bestickt. Ich nehme das Stückchen Stoff in die Hand und sehe die alte Dame wieder vor mir, die mir diese Stickerei zum Geschenk gemacht hatte. Als wir uns vor vielen Jahren kennengelernt haben, war ich noch ein junger Pastor und sie war schon ein gutes Stück über achtzig. Sie war Mitglied in unserem Bibelkreis. Zwischen uns hatte sich im Laufe der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Mir tat es gut, mich ab und zu bei ihr auf eine Tasse Tee einzuladen.
„Ich bin heute nicht gut drauf!“ meinte sie einmal und erzählte dann von ihrer Schwägerin, mit der sie seit vielen Jahren Streit hatte. „Ich liege dann abends im Bett und streite mich in meinen Gedanken mit ihr. Ich liege dann lange wach und kann nicht einschlafen.“ „Was war denn damals?“ „Ach, das ging los, als Mutter gestorben ist. Sie hat damals etwas gemacht, das verzeihe ich ihr bis heute nicht.“ Mehr wollte sie nicht erzählen und ich junger Kerl saß ihr ziemlich ratlos gegenüber.
Wenn man über 80 ist, dann steht man doch über solchen Dingen, habe ich damals noch gedacht. Mir fiel nichts Besseres ein als ihr zu sagen: „Sie schleppen die alte Geschichte seit so vielen Jahren mit sich rum und werden von ihr runtergedrückt. Man muss auch mal loslassen können.“ Ich bin ziemlich unbefriedigt nach Hause gegangen. Mir ging noch einiges durch den Kopf, was ich – so meinte ich damals – noch unbedingt hätte sagen müssen.
Eine Woche später trafen wir uns beim Bibelkreis. „Ich habe ihnen etwas mitgebracht!“ sagte sie und strahlte mich an. Und dann drückte sie mir das kleine bestickte Lesezeichen in die Hand. „Sie hatten Recht. Irgendwann muss man auch diese alten Geschichten loslassen können.“